Leben ohne Krankheit: »Einer der besten Mediziner Amerikas lehrt ein radikal neues Denken über unsere Gesundheit.« Al Gore (German Edition)
Das ist eine wichtige Erkenntnis zum Verständnis von Krebs. Die Forschung hat sich lange auf die molekularen Defekte der Krebszellen konzentriert – nicht darauf, wie er tatsächlich aussieht. Das Diagramm des National Cancer Institute »Verlust der normalen Wachstumskontrolle« in diesem Abschnitt erfasst nur einen Teil der Realität. Krebs ist keine Krankheit der Gene, sondern eine von Zellen, die durch genetische Veränderungen ein bestimmtes Äußeres und ein bestimmtes Verhalten annehmen. Auch wenn wir also vielleicht eine Möglichkeit finden, einen molekularen Weg der Krebsentstehung zu blockieren, entwickelt der Krebs sich wahrscheinlich auf einem anderen Weg; normalerweise ist er leider sehr effizient darin.
Stellen Sie sich einen Krebspatienten vor. Der Betreffende hatte ja nicht immer Krebs, hat aber trotzdem nach wie vor dieselbe DNA in seinen Körperzellen. Der Unterschied zwischen krebskrank und nicht krebskrank liegt nicht nur im Genom. Die meisten Körperzellen werden nicht zu Krebszellen. Krebs ist ein dynamischer Prozess, der sich weit jenseits der Grenzen eines statischen Stücks DNA abspielt. Eine spezifische Mutation in einem Genom kann allerdings erklären helfen, wie er zustande gekommen ist. Einer der wenigen Erfolge von Gentests im Kampf gegen den Krebs war zum Beispiel die Identifikation von BRCA1 und 2, spezifischen Genen, die mit einem erhöhten Brustkrebsrisiko in Verbindung gebracht werden. BRCA1/2-Mutationen sind bei aschkenasischen Juden häufiger als im Bevölkerungsdurchschnitt. Wichtig ist, dass eine Mutation zu BRCA1 und 2 keinen Brustkrebs hervorruft, sondern nur weitere Mutationen erleichtert, die den Krebs verursachen. Frauen mit der ererbten BRCA1/2-Mutation werden zwar bereits mit dieser Mutation geboren, aber eben nicht mit Brustkrebs.
Es gibt mehrere solche Beispiele einer genetisch bedingten Anfälligkeit für Krebs, aber der Krebs selbst ist in keinem Fall ererbt. Angeboren ist nur die Prädisposition; wer das mutierte Gen hat, wird mit größerer Wahrscheinlichkeit Krebs bekommen. Die Gene BRCA1 und 2 unterbrechen wahrscheinlich die Unterhaltung, die im Körper zur Reparatur defekter DNA stattfindet. Aber nicht jede Frau mit den BRCA-Genen bekommt Brustkrebs, denn es gibt zwar viele Wege, auf denen Krebs entstehen kann, aber auch viele, die DNA zu reparieren. Bedenken Sie außerdem, dass die meisten Brustkrebspatientinnen völlig intakte BRCA-Gene haben, also liegt die Schuld nicht nur beim Genom.
Das bringt mich wieder auf den Begriff des Systems zurück. Wie man in einem umfangreichen, komplexen System an den Endpunkt gelangt, ist in gewisser Hinsicht irrelevant. Es kommt darauf an, das System als Ganzes zu pflegen und zu schützen. Genauer gesagt ist Krebs ein Symptom des Zusammenbruchs der Verständigung innerhalb der Zellen und zwischen ihnen. Es entsteht eine willkürliche Zellteilung, die Zellen versäumen es, einander den Befehl zum Selbstmord zu geben, erteilen stattdessen unbegründete Anweisungen zum Bilden von Blutgefäßen oder erzählen einander Lügen. Irgendwie ist das gesamte Regelwerk in dieser Verständigung außer Kraft. Wenn wir einen ganzen Klumpen von Zellen sehen, die sich in einem bestimmten Körperteil unkontrollierbar zu teilen beginnen, dann nennen wir diesen Klumpen Krebs, je nach dem befallenen Organ Lungenkrebs oder Hirnkrebs. Aber das beschreibt nicht den eigentlichen Schaden, sondern nur eines seiner Symptome.
Die Konvention, die einzelnen Krebsarten nach dem befallenen Körperteil zu benennen, entstammt einer Kombination von Autopsieergebnissen in Frankreich Anfang des 18. Jahrhunderts und mikroskopischen Beobachtungen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Es ist ein völlig veralteter Brauch, Krebs nach der Prostata, der Brust oder der Muskulatur zu benennen. Eigentlich ist das völlig sinnlos. Früher unterschied man Dutzende Krebsarten, heute sind es Hunderte. Man müsste mehrere Millionen unterscheiden. Der durchschnittliche Krebs hat bei der Erstdiagnose bereits über 100 Mutationen in seinem genetischen Code, und ich glaube nicht, dass man das erfassen oder in einem Modell nachbilden kann. Die Anzahl der Mutationen steigt dann noch exponentiell, wenn der Patient in der Chemotherapie mit Medikamenten behandelt wird, die von sich aus weitere Mutationen hervorrufen. Eines der typischen Kennzeichen von Krebs ist ja gerade seine unstabile DNA; wenn sich also die Wirkstoffe der Chemotherapie an sie andocken, können
Weitere Kostenlose Bücher