Leben ohne Krankheit: »Einer der besten Mediziner Amerikas lehrt ein radikal neues Denken über unsere Gesundheit.« Al Gore (German Edition)
Heilmitteln vorantreiben. Sie hat uns Ärzte auch verführt, unseren hippokratischen Eid zu brechen, nach dem wir dem Patienten nicht schaden dürfen. Denn die Wahrheit ist leider, dass einige Ärzte den Patienten sehr schaden. Das gesamte Konzept, keinen Schaden anzurichten, ist völlig korrumpiert worden; die Medizin ist in eine extreme Position geraten, wo sie nur noch von wenigen Daten gerechtfertigt und von falschen oder unbewiesenen Behauptungen überrannt wird. Und das kann einem Angst machen.
Ein Systembegriff wird geboren
Als ich eines Tages im Jahr 2004 vom Cedars-Sinai-Hospital zu meiner Klinik in L.A. unterwegs war, fiel mir im Schaufenster des Krankenhauskiosks die neueste Ausgabe des Wirtschaftsmagazins Fortune auf. Die Schlagzeile auf dem Titelblatt lautete »Warum wir den Kampf gegen den Krebs verlieren«. Der Artikel dazu stammte von Clifton Leaf, selbst ehemals krebskrank, dessen Leben durch eine Therapie gerettet worden war, die sich noch im klinischen Versuchsstadium befand, als er sich ihr in den 1970er-Jahren als Teenager unterzog. Ich war ziemlich beeindruckt, denn jeder Krebsarzt, der eine solch entmutigende Schlagzeile und einen so wohldurchdachten Essay liest, muss sich in seinem ureigenen Tätigkeitsbereich als Versager fühlen. Als bei Clifton die Hodgkins’sche Krankheit festgestellt wurde, brachten ihn seine Eltern aus New York City in ein Krankenhaus einer anderen Stadt dieses Staates, damit er dort eine damals noch experimentelle Therapie machen konnte, ein ziemlich brutales Verfahren, zu dem auch MOPP gehörte, die erste Kombinationschemotherapie, die erfolgreich gegen diese Krankheit eingesetzt wurde. Sie wurde im Wechsel mit Bestrahlungen durchgeführt, nach denen ihm wiederum die Schilddrüse entfernt werden musste, die irrtümlich mitbestrahlt worden war. Aber die Behandlung führte zur Heilung, und Clifton wurde zu einem Streiter für die Sache der Krebspatienten. Er tritt jetzt weltweit bei großen Fachkonferenzen als Vortragsredner auf und bringt eine erfrischende, leidenschaftliche Note in die wissenschaftliche Diskussion, sowohl als preisgekrönter Journalist wie als energischer Patientenanwalt, dem es darum geht, dass die richtigen Prioritäten gesetzt werden.
Clifton brachte in seinem Artikel mehrere bemerkenswerte Ansichten vor. Am wichtigsten war dabei seine Erklärung, wie wir – als Gesellschaft, aber spezifischer innerhalb der Heilberufe – uns heutzutage der Biologie nähern. In den letzten 50 Jahren haben wir uns darauf konzentriert, die einzelnen Eigenschaften des Krebses zu verstehen, um ihn zu behandeln, anstatt uns direkt zu bemühen, ihn zu kontrollieren. Wir haben vergessen, dass Krebsbehandlung mit Krebsvorsorge beginnt und dass es entscheidend ist, den Krebs bereits im Frühstadium zu entdecken, wenn es eine Chance geben soll, die Krankheit zu verhindern oder zu kontrollieren, bevor sie in ihr tödliches Stadium eintritt. Wenn es der Wissenschaft nur noch um winzige Verbesserungen der Therapie anstatt um einen Durchbruch geht, dann verliert sie ihr Ziel aus den Augen.
Sind wir deshalb im »Krieg« gegen den Krebs innerhalb der letzten fünf Jahrzehnte kaum vorangekommen? Erklärt sich so die immer größere Lücke zwischen den Therapiefortschritten bei Krebs und anderen Krankheiten? Solche bohrenden Fragen fingen an, mich zu beschäftigen. Ich bin schließlich ein Krebsarzt, der gegen Krebs nicht viel ausrichten kann. Die Medizin hat in den letzten 100 Jahren außergewöhnliche Fortschritte gemacht, aber auf meinem Fachgebiet haben sie schon vor Jahrzehnten damit aufgehört.
Unsere Ansichten über das Leben entwickeln sich normalerweise langsam weiter, aber sie können sich auch in einem einzigen Augenblick schlagartig verändern, wenn eine neue Tatsache bekannt wird. Meine Ansichten über Gesundheit begannen sich ernsthaft zu verändern, als ich Cliftons Artikel las, und schlugen dann in ein neues Muster um, als ich eines Abends mit einem Physik-Nobelpreisträger darüber sprach. Im Juli 2009 hatte ich nämlich das Glück, bei einem Abendessen in Aspen, Colorado, Murray Gell-Mann kennenzulernen, den Physiker, der vor fast 50 Jahren die Existenz der Quarks postuliert hat. Dabei handelt es sich um die grundlegenden Bausteine jeglicher Materie im Universum, grundlegender als Elektronen. Murrays Arbeit war ein entscheidender Beitrag zu unserem Verständnis des Aufbaus des Universums auf der subatomaren Ebene. Er erhielt bereits 1969 den Nobelpreis
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