Leben ohne Krankheit: »Einer der besten Mediziner Amerikas lehrt ein radikal neues Denken über unsere Gesundheit.« Al Gore (German Edition)
sind, produzieren Sie nicht nur Vitamin D, sondern zusätzlich fünf bis zehn lichtabhängige andere Stoffe, sogenannte Photoprodukte, die Sie weder aus der Nahrung noch über Nahrungsergänzungsmittel erhalten. Die Frage drängt sich auf, warum wohl Mutter Natur all diese Vitamin-D-Photoprodukte bereitstellen sollte, wenn sie keine biologischen Auswirkungen hätten? Ich vermute, dass sie alle eine Rolle für das gesunde Funktionieren unseres Körpernetzwerks spielen und die Forschung es noch herausfinden wird.
Wie viel brauchen wir also wirklich?
Inzwischen sind Sie vermutlich unsicher, ob Sie Vitamin D zusätzlich einnehmen sollten. Bevor ich Ihnen das beantworte, muss ich der Vitamin-D-Story noch einige Einzelheiten hinzufügen. Vorhin habe ich ja schon darauf hingewiesen, dass die Vitamin-D-Rezeptoren bei verschiedenen Menschen unterschiedlich funktionieren. Meine Rezeptoren binden das Molekül vielleicht fester (oder auch weniger fest) als Ihre, und das beeinflusst die Gesamtmenge, die ich im Blutkreislauf benötige. Die Forschung hat gezeigt, dass jeder Mensch eine genetische Disposition für einen bestimmten Vitamin-D-Spiegel hat, und dass also kein Wert für alle gelten kann.
Eine im Juni 2010 erschienene Studie in der Fachzeitschrift Lancet zeigte, dass mindestens drei, wahrscheinlich sogar vier Gene zur Variabilität der Vitamin-D-Werte in der Bevölkerung beitragen. Genau wie Augenfarbe und Blutgruppe – in der Biologie nennt man das Polymorphismus – variiert auch der Vitamin-D-Status. Interessanterweise beträgt der weltweite Durchschnittswert etwa 20 ng/ml (was nach heutigen Standards als Mangelzustand gilt), mit nur geringen Schwankungen von Land zu Land. Noch interessanter ist, dass es innerhalb jedes Landes viel stärkere Schwankungen gibt – von unter 8 bis über 80 ng/ml. Eine so starke Variabilität kann man nicht nur geografisch erklären, weil die Bewohner des gleichen Breitengrades jeweils derselben Menge Vitamin-D-erzeugendem UVB-Sonnenlicht ausgesetzt sind. In den komplexen Systemen der Menschen geht also noch etwas anderes vor.
Die Leiter dieser neuen Studie stellten eine gute Frage: Beeinflussen die Gene, die den Vitamin-D-Spiegel kontrollieren, auch die Reaktion des Körpers auf Vitamin-D-Nahrungsergänzungsmittel? Wenn ja, sollte das bei der zusätzlichen Einnahme von Vitamin D in Betracht gezogen werden? Dahinter steckt eine noch grundlegendere Frage: Was heißt eigentlich »Mangel« in diesem Zusammenhang? Wie kann man im Einzelfall einschätzen, was ein »Mangel« ist? Was ist der ideale Wert? Genauer gesagt, wer entscheidet eigentlich, wo der »normale« Vitamin-D-Wert liegt? Leider werden Menschen nicht mit einer Gebrauchsanweisung geliefert, in der die Normalwerte angeführt sind!
Ich hoffe, dass Sie sich jetzt angesichts der vielen Unsicherheiten, die hier eine Rolle spielen, nicht dumm oder überfordert vorkommen. Selbst die sogenannten Experten dieses Fachgebiets haben ihre Mühe mit klaren Empfehlungen – auch sie sind durch widersprüchliche Informationen und zweifellos auch widersprüchliche Interessen verwirrt. Um die Sache noch schlimmer zu machen, erklärte eine weitere Expertenkommission Ende 2010, dass die Einnahme hoher Dosen Vitamin D über Nahrungsergänzungsmittel unnötig und möglicherweise schädlich sei. Die Kommission, die übrigens Kalzium-Nahrungsergänzungsmittel genauso verurteilte, bestand aus 14 Mitgliedern, die das Institute of Medicine, eine unabhängige, gemeinnützige Körperschaft, im Auftrag der amerikanischen und kanadischen Regierungen berufen hatte. Sie sollte die bekannten Daten – fast 1000 Veröffentlichungen – untersuchen, um festzustellen, wie viel Vitamin D und Kalzium die Bevölkerung erhielt, wie viel sie optimal brauchte, und was eine Überdosis wäre. Laut dieser Kommission haben die meisten Menschen bereits durch ihre Ernährung und aus natürlichen Quellen wie dem Sonnenlicht genug Vitamin D im Blutkreislauf, und für die meisten Menschen ist es nicht sinnvoll, Kalzium- und Vitamin-D-Nahrungsergänzungsmittel einzunehmen.
Das heißt nicht, dass eine solche Zusatzdosis überhaupt nie sinnvoll sei. Das Schlüsselwort hier ist »für die meisten Menschen«. In manchen Fällen ist eine Zusatzversorgung eben doch sinnvoll. Wer das Sonnenlicht meidet, sich auch an kalten Wintertagen mit Sonnencreme einreibt und wenig Vitamin-D-reiche Nahrungsmittel wie etwa Kaltwasserfische zu sich nimmt, sollte darüber nachdenken.
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