Leben um zu lieben (Junge Liebe) (German Edition)
Gefühle überkamen mich. Ich wünschte mir ein Handy herbei, um Kevin schreiben und ihn zurückholen zu können. Im selben Moment hoffte ich, ihm nie wieder in die Augen sehen zu müssen. Ich redete mir ein, dass Abstand für die nächsten Tage das Beste für mich sein würde. Damit dachte ich nicht an den alleinigen Abstand zu Kevin, sondern insbesondere an den Abstand zu meinen Gefühlen, um wieder rational denken und meine Gefühle ordnen zu können.
Acht Tage vergingen, an denen ich und Kevin keinen Kontakt mehr zueinander hatten. Acht Tage lang hatte ich keinen Bleistiftstrich mehr an meiner Zimmerwand gezogen. In diesen Tagen hatte ich viel am Keyboard geübt. Ich hatte mich gesund ernährt und meine Wohnung ordentlich gehalten. Den Gesprächen meiner Nachbarin war ich aus dem Weg gegangen. Ich war mir darüber im Klaren geworden, dass ich Kevin nicht böse sein konnte. Er hatte nichts mutwillig falsch gemacht. Immer wieder kam mir sein letzter Blick in die Erinnerung und ich fühlte, dass ich mich falsch verhalten hatte. Ich vermutete, dass Kevin keinen Kontakt mehr zu mir wollte. Verstehen konnte ich es. Noch immer wusste ich nicht, ob ich mir so viele Gedanken über ihn machte, weil er mein erster Besuch seit langem gewesen war oder weil ich ihn in der kurzen Zeit lieber gewonnen hatte, als es sein durfte. Es fiel mir schwer, diesen Gedankenzug zu ignorieren und es fiel mir noch schwerer, nicht an ihn zu denken. Beim Einzug in die Wohnung hatte ich mir weiße Wandfarbe besorgt, um einige Flecken, die mich damals arg gestört hatten, verschwinden zu lassen. Ich hatte mir nun vorgenommen, die vielen selbst kreierten Striche, die einer alten Gefängniswand glichen, zu überstreichen.
Die Farbe hatte ich bereitgestellt und mir ein altes, weißes T-Shirt angezogen. Bevor ich die Farbrolle in die Flüssigkeit tunkte, öffnete ich die Wohnungsfenster und betrachtete das gewohnte Werk ein letztes Mal. Ich war mir im Klaren darüber geworden, dass meine Familie niemals gewollt hätte, dass ich so endete, wie es leider geschehen war. Aus genau diesem Grund wollte ich mein Leben wieder in den Griff bekommen und den Alltag ändern. Wenn Kevin und ich auch keinen Kontakt mehr zueinander hatten, so war ich ihm dankbar dafür, dass er mich in dieser Entscheidung passiv beeinflusst hatte. Ich brauchte noch etwas Zeit, bevor ich ihm all das schreiben würde. Ein letzter Blick und ich begann damit, mein extravagantes Kunstwerk hinter weißer Farbe verschwinden zu lassen. Es dauerte nicht lange, bis ich diese Aufgabe vollendet hatte. Die frische Farbe brachte das kleine Stück der Wand zum Glänzen. Trotz der geöffneten Fenster stieg ein milchiger Geruch in meine Nase.
Zufrieden mit meiner Arbeit, brachte ich die Rolle zum Waschbecken, um sie auszuspülen und dann zusammen mit der Farbe zurück in einen kleinen Wandschrank meiner Küche zu räumen.
Wie zeitlich abgepasst, klingelte es in dem Moment an der Tür, als ich die Schranktür vor mir verschlossen hatte. Hastig griff ich nach meinem Einkaufszettel, um ihn der alten Riedel mitzugeben und eilte zur Tür.
Sofort nahm ich den Lavendelgeruch wahr und lächelte meine Nachbarin höflich an.
„Na, mein Junge!“, begrüßte sie mich und versuchte neugierig an mir vorbeizuspähen. „Gestrichen haben Sie, richtig? Gestrichen haben Sie!“
Ich nickte und hielt ihr den geschriebenen Einkaufszettel und etwas Geld entgegen.
„Wollen Sie denn noch immer nicht darüber reden?“, fragte sie in ihrer rauen, zittrigen Stimme.
Ich schüttelte mit dem Kopf.
„Nun gut, junger Mann, jedenfalls habe ich Ihnen etwas mitgebracht.“ Sie knipste die kleine Handtasche, die sie stets bei sich trug, auf und holte ein altes Handy hervor.
„Wissen Sie, ich brauche das gar nicht mehr. Ich bin viel zu alt für so etwas. Wissen Sie, Sie können das sicher besser gebrauchen.“
Gerührt nahm ich das Geschenk entgegen, betrachtete es mehrmals. Ich drehte es in meinen Händen, als würde ich etwas Unbezahlbares in meinen Händen halten. Dankend lächelte ich meine Nachbarin an.
„Ich weiß, das olle Ding ist nicht mehr das Modernste, aber es erfüllt seinen Zweck. So, mein Junge, dann wünsche ich noch einen angenehmen Tag und ich werde die Einkäufe später vorbei bringen.“ Sie drückte die Handtasche wieder eng an ihre Brust, legte ihren Kopf lächelnd schief und verabschiedete sich freundlich von mir.
Ich stand noch eine ganze Weile fassungslos in der Tür, bevor ich mich
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