Leben um zu lieben (Junge Liebe) (German Edition)
gestern passiert ist, müssen wir nicht reden. Wir können es einfach vergessen. Eigentlich wollte ich dir in diesem Brief von dem Unfall und meiner Familie erzählen. Du bist der Erste, dem ich all das anvertraue und ich hoffe, dass du dich damit nicht überfordert fühlst. Übrigens war ich letztens erst auf dem Friedhof. Dort habe ich wirklich ein schlechtes Gewissen bekommen und gemerkt, dass meine Familie niemals gewollt hätte, dass mein Leben so aus den Fugen gerät. Ich habe durch dich eine Menge erkannt und du hast mir geholfen, mein Leben wieder leben zu können. Im nächsten Semester möchte ich wieder mit dem Studieren anfangen. Ich hoffe, dass ich das alles schaffe. Allerdings habe ich wirklich viel Ehrgeiz aufgebaut und denke, dass ich auf dem besten Weg bin. Über den Unfall zu reden fällt, mir nicht leicht. Ich würde mir wünschen, dass du meine Lebenssituation und Vergangenheit dann besser verstehen kannst. Du solltest nicht denken, dass ich absichtlich mit dem Sprechen aufgehört habe. Ich versuche so oft, etwas zu sagen, doch schnürt sich meine Kehle dann irgendwie zusammen und ich bekomme im Endeffekt keinen Laut heraus.
Der Tag des Unfalles war ein Samstag. Meine Schwester, Tanja, und ich hatten meine Eltern so lange bequatscht in einen Freizeitpark zu fahren, bis wir es letztendlich geschafft hatten. Wir befanden uns auf der Autobahn von Kiel nach Hamburg. Tanja hörte Musik über ihren CD-Player und ich las ein Buch. Meine Eltern waren eigentlich ein sehr glückliches Paar, hatten trotzdem häufig Auseinandersetzungen und konnten stundenlang über belanglose Dinge streiten. Während eben dieser Autofahrt fing solch eine irrsinnige Diskussion an. Sie stritten sich über die Art und Weise, in der mein Vater Auto fuhr. Meine Mutter mochte es nicht, wenn mein Vater unruhig war. Sie konnte noch wütender darüber werden, wenn Tanja und ich dabei waren. Mein Vater wehrte und verteidigte sich und begann damit, die Macken meiner Mutter aufzuzählen. Die nächste Abfahrt mussten wir herunter. Mein Vater schien bereits sichtlich verärgert zu sein und fuhr dadurch noch schneller. Ich hatte mein Buch bereits beiseite gelegt und versuchte meine Schwester mit einem Schulterzucken zu beruhigen. Dies sollte ihr zeigen, dass sie sich keine Sorgen machen brauchte. Meine Mutter wies ihn aufgebracht dazu an, sich zu beruhigen und langsamer zu fahren. Auf dem Beschleunigungsstreifen schenkte mein Vater dem Streit und meiner Mutter schließlich mehr Beachtung als dem Geschehen auf der Autobahn. Er hatte sich nicht vergewissert, ob die Spur frei war und mit einem kurzen Blinken herübersetzen wollen. Den LKW hatte er zu spät gesehen. Ich schrie, dass er aufpassen sollte, meine Mutter kreischte und griff ins Lenkrad. All das irritierte meinen Vater noch mehr. Meine Schwester krümmte sich zusammen und kniff die Augen zu, meine Mutter hörte nicht mit dem Schreien auf. Ich hörte lautes Quietschen, Hupen und dann einen lauten Knall. Unser Wagen wurde einige Meter vom LKW mitgeschleift. Ich kann mich zuletzt nur noch daran erinnern, dass es erneut knallte und ich eine Erschütterung wahrnahm. Aufgewacht bin ich erst wieder im Krankenhaus, aber das weißt du ja. Ich kann mich noch daran erinnern, dass ich nicht realisieren konnte, was passiert war. Den übrigen Unfallhergang kenne ich nur aus Zeitungsartikeln …
Immer wenn ich etwas sagen will, füllen all diese Bilder und Geräusche meinen Kopf. Alles in mir zieht sich dann zusammen und schließlich gebe ich auf, um das grausame Gefühl loswerden zu können.
Es wundert mich selbst, dass ich dir davon erzähle, obwohl ich dich noch nicht lange kenne. Ich weiß nicht genau, was das zwischen uns ist. In mir herrscht ein Chaos, dass ich seit unserem ersten Treffen zu bewältigen versuche. Du brauchst nicht antworten, wenn dir nicht danach ist. Du solltest nur wissen, dass ich kein Mitleid suche und mir nur wünsche, dass du mich verstehst. In der kurzen Zeit bist du mir wirklich wichtig geworden. Ich hoffe, bald wieder von dir zu hören. Yannek.“
Ich atmete einmal tief ein und aus, bevor ich die lange Nachricht, ohne sie ein weiteres Mal zu überprüfen, versendete. Insgesamt war es mir leichter als erwartet gefallen, von dem Unfall zu berichten. Meine Angst bestand lediglich darin, dass Kevin sich durch den Brief zu sehr in die Enge getrieben fühlen könnte. Es war schlimm genug, nicht zu wissen, ob er sich die nächsten Tage überhaupt bei mir melden
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