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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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vor weiterem blindem Herumtappen bewahren, oder nicht?«
    »Die werden sich freuen«, meinte Sokolow zweifelnd, »wie Sportler sich freuen, wenn ein anderer einen Rekord aufgestellt hat.«
    Strum antwortete nicht. Sokolow hatte auf eine Auseinandersetzung angespielt, die sich unlängst im Labor ereignet hatte.
    Dabei hatte Sawostjanow die anderen davon überzeugen wollen, dass wissenschaftliche Arbeit nichts anderes sei als Sport – auch die Wissenschaftler bereiteten sich vor, trainierten, und der Einsatz, den die Lösung wissenschaftlicher Fragen erfordere, entspreche genau dem des Sportlers. Die gleichen Rekorde – hier wie dort.
    Strum und besonders Sokolow hatten sich über Sawostjanow geärgert, und Sokolow hatte ihn streng zurechtgewiesen, ihn einen jungen Zyniker genannt und seinerseits die Wissenschaft mit der Religion verglichen. Wissenschaftliche Arbeit sei, so hatte er gesagt, ein Ausdruck des menschlichen Strebens nach Gott.
    Strum wusste genau, dass ihn Sawostjanows Bemerkungen nicht nur deshalb geärgert hatten, weil er sie für falsch hielt, sondern auch weil er selbst schon hin und wieder die Freude, Aufregung und Missgunst eines Sportlers empfunden hatte. Dabei war er sich aber stets bewusst gewesen, dass Eitelkeit und Neid, Besessenheit, Triumphgefühle und sportlicher Ehrgeiz nicht das Wesentliche, sondern nur das Äußerliche seiner Beziehung zur Wissenschaft charakterisierten. Er hatte sich über Sawostjanow geärgert, weil er unrecht und doch recht hatte.
    Über seine wahren Gefühle für die Wissenschaft, die irgendwann in seiner Jugend in ihm erwacht waren, sprach er nie mit jemandem, nicht einmal mit seiner Frau. Umso mehr hatte es ihn gefreut, dass Sokolow bei dem Streit mit Sawostjanow so erhabene Worte für die Wissenschaft gefunden hatte.
    Warum aber spielte Pjotr Lawrentjewitsch dann jetzt auf jenen Vergleich zwischen Wissenschaftlern und Sportlern an? Warum gerade in diesem für Strum so außerordentlichen, besonderen Moment?
    In einer Mischung aus Verwirrung und Gekränktheit fragte er Sokolow schroff: »Ja, freuen Sie sich etwa nicht über das, worüber wir gerade gesprochen haben, weil nicht Sie den Rekord aufgestellt haben?«
    Sokolow dachte gerade, wie einfach, wie selbstverständlich Strums Lösung doch war und dass sie schon lange auch in seinem Kopf geschlummert haben musste, dass sie jeden Moment auch von ihm hätte ausgesprochen werden können. Er sagte: »Ja, ich freue mich genauso wenig wie Lorenz, als Einstein, und nicht er, seine Gleichungen umwandelte.«
    Dieses Eingeständnis war so schlicht und aufrichtig, dass Strum seine Erbitterung schon zu bereuen begann. Doch dann fügte Sokolow hinzu: »Ich habe natürlich nur Spaß gemacht. Ich denke keineswegs wie Lorenz. Dennoch habe ich recht und nicht Sie, auch wenn ich nicht so denke.«
    »Natürlich, natürlich«, sagte Strum rasch, doch seine Gereiztheit blieb, denn nun wusste er, dass Sokolow eben doch so dachte.
    »Er ist heute einfach nicht aufrichtig«, dachte er, »aber er ist unschuldig wie ein Kind und kann sich nicht verstellen.«
    »Pjotr Lawrentjewitsch«, fragte er ablenkend, »treffen wir uns am Samstag wieder bei Ihnen?«
    Sokolow zuckte mit seiner gewaltigen Nase und setzte zu einer Antwort an, sagte aber dann doch nichts.
    Strum schaute ihn fragend an.
    Schließlich sagte Sokolow: »Ach, Viktor Pawlowitsch, ich muss Ihnen sagen, dass mir diese Teestündchen nicht mehr so recht gefallen wollen.«
    Jetzt war er es, der seinen Gesprächspartner fragend anschaute, und obwohl dieser schwieg, fuhr er schließlich fort: »Sie fragen, warum? – Na, Sie wissen ja selbst … Die Sache ist zu ernst. Wir hätten unsere Zungen besser hüten sollen.«
    »Na, Sie haben sie doch gehütet«, sagte Strum, »Sie haben ja kaum was gesagt.«
    »Das ist es ja eben.«
    »Na, dann machen wir’s eben bei mir. Ich würde mich freuen«, erwiderte Strum ärgerlich.
    Er wunderte sich über sich selbst. War er nicht ebenso unaufrichtig wie Sokolow? Warum log er denn? Warum zankte er sich mit ihm, obwohl er im Innern doch ganz seiner Ansicht war. Ihm war ja auch nicht wohl bei dem Gedanken an diese Zusammenkünfte, er würde sie jetzt gar nicht wollen.
    »Warum bei Ihnen?«, fragte Sokolow. »Darum geht’s doch gar nicht. Ich sage es Ihnen ganz offen – ich habe mich mit meinem Verwandten, Madjarow, dem Hauptwortführer, überworfen.«
    Eigentlich wollte Strum fragen: »Pjotr Lawrentjewitsch, sind Sie sicher, dass Madjarow kein

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