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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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aufgewacht.«
    Darenski, den Bowas Weigerung, über die durchschnittliche Truppendichte pro Frontkilometer und über die Vorzüge der Minenwerfer gegenüber der Artillerie unter den Bedingungen der Sandsteppe zu reden, zunächst verdross, ging dann aber doch auf das angeschnittene Thema ein: »Ja, das will ich meinen, die Ukrainerinnen sind ganz besonders interessant. Als wir 1941 in Kiew standen, kannte ich eine Person, eine Ukrainerin – ihr Mann war bei der Staatsanwaltschaft –, eine Schönheit, sag ich Ihnen!«
    Er erhob sich, streckte den Arm aus und berührte mit den Fingern die niedrige Decke. Dabei fuhr er fort: »Auch was den Kuban betrifft, muss ich Ihnen recht geben. Der Kuban verdient in dieser Hinsicht einen der ersten Plätze – ein ungewöhnlich hoher Prozentsatz an schönen Frauen.«
    Darenskis Worte wirkten offenbar stark auf Bowa. Er fing an, zu fluchen und zu jammern: »Und jetzt diese Kalmückinnen!«
    »Ach, sagen Sie das nicht«, meinte Darenski und hielt eine recht flüssige Rede über die Vorzüge der sonnengebräunten, nach Kräutern und Steppenfeuer duftenden Frauen mit den ausgeprägten Wangenknochen. Er erinnerte sich an Alla Sergejewa aus dem Stab der Steppenarmee und beendete seine Ausführungen mit den Worten: »Ja, und überhaupt haben Sie unrecht, Frauen gibt es überall. In der Wüste gibt es zwar kein Wasser, aber Damen, die gibt es.«
    Doch Bowa antwortete nicht. Da merkte Darenski, dass er eingeschlafen war, und erst in diesem Moment ging ihm auf, dass sein Gastgeber völlig betrunken war.
    Sein Schnarchen klang wie das Stöhnen eines Sterbenden; der Kopf hing über den Bettrand hinab, und Darenski schob Bowa mit jener besonderen Geduld und Güte, die alle Russen Betrunkenen gegenüber an den Tag legen, ein Kissen unter den Kopf, bettete seine Füße auf eine Zeitung, wischte ihm den speicheltriefenden Mund ab und begann, sich selbst nach einer Schlafstelle umzusehen.
    Er legte den Mantel seines Gastgebers auf den Boden, breitete seinen eigenen Mantel als Decke darüber und nahm als Kopfkissen seine Feldtasche, die ihm unterwegs als Schreibmappe und Behältnis für Lebensmittel und Waschutensilien diente.
    Dann ging er ins Freie, sog gierig die kalte Nachtluft ein und seufzte beim Anblick der gleißenden Sterne am schwarzen asiatischen Himmel; er urinierte, ohne den Blick von den Sternen zu wenden, und dachte: »Ja, der Kosmos …« Dann ging er schlafen.
    Er legte sich auf den Mantel des Hausherrn, deckte sich mit dem eigenen Mantel zu, doch anstatt die Augen zu schließen, starrte er in die Dunkelheit. Ein unangenehmer Gedanke war ihm gekommen: In dieser Hütte umgab ihn eine unappetitliche, hoffnungslose Armut. Sein Lager auf dem Boden, die Reste der eingemachten Tomaten, der Pappkoffer, der wahrscheinlich ein kleines Handtuch mit Waffelmuster und einen großen schwarzen Stempel, ein paar saubere Kragen, ein leeres Halfter und einen verbeulten Seifenbehälter enthielt …
    Im Vergleich dazu erschien ihm die Hütte in Werchne-Pogromnoje, in der er im Herbst übernachtet hatte, geradezu komfortabel, und in einem Jahr würde ihm wohl auch die heutige Unterkunft vergleichsweise luxuriös erscheinen, wenn er in irgendeinem Loch kauerte, in dem es nicht einmal mehr einen Rasierapparat, einen Koffer und zerfetzte Fußlappen gab.
    In den Monaten beim Stab der Artillerie hatte sich Darenski innerlich sehr verändert. Der Hunger nach Arbeit, der ursprünglich ebenso groß gewesen war wie sein Verlangen nach Nahrung, war inzwischen befriedigt. Das Arbeiten machte ihn nicht mehr glücklich, wie ja auch ein ständig satter Mensch keine Freude mehr am Essen hat.
    Er leistete gute Arbeit und wurde von seinen Vorgesetzten sehr geschätzt. Zuerst hatte ihn das gefreut – er war es nicht gewohnt gewesen, für nützlich oder gar unersetzlich zu gelten. Lange Jahre war es umgekehrt gewesen.
    Das Gefühl der Überlegenheit gegenüber den Mitarbeitern, das er inzwischen hatte, veranlasste ihn nicht, seine Kameraden mit wohlwollender Herablassung zu behandeln, wie das wahrhaft souveräne Persönlichkeiten wohl getan hätten; er war eben offenbar nicht wirklich souverän.
    Vielmehr bekam er oft Wutanfälle, schrie und tobte, anschließend sah er die Menschen, die er beleidigt hatte, mit einer Leidensmiene an, bat sie jedoch nie um Verzeihung. Man ärgerte sich über ihn, hielt ihn jedoch nicht für einen schlechten Menschen. Beim Stab der Stalingradfront war man womöglich noch freundlicher zu

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