Leben und Schicksal
er: »Es steht uns nicht zu, einem großen Strategen unseren Willen aufzuzwingen.«
Er nahm den Angriffsbefehl vom Tisch und unterzeichnete ihn.
»Nur vier Exemplare mit Rücksicht auf den äußersten Geheimhaltungsgrad«, sagte Schmidt.
14
Die Einheit, die Darenski nach seinem Besuch im Stab der Steppenarmee aufsuchte, befand sich an der Südostflanke der Stalingradfront in der wasserlosen Sandsteppe vor dem Kaspischen Meer.
Die Steppe mit ihren Seen und Flüssen erschien ihm von hier aus wie das Gelobte Land; dort wuchs doch wenigstens Federgras, hin und wieder gab es auch ein paar Bäume, und es wieherten Pferde.
Hier, in dieser öden Sandebene, hatten Tausende von Menschen ihr Quartier aufgeschlagen, die an Feuchtigkeit in der Luft, an Morgentau und raschelndes Gras gewöhnt waren. Stattdessen schnitt ihnen jetzt der Steppensand in die Haut, setzte sich in ihre Ohren, in die Hirse und ins Brot; Sand war im Salz, im Gewehrschloss und in den Uhren; Sand spukte durch die Träume der Soldaten … Der Körper, besonders die Nasenlöcher, Kehle und Waden, waren ständiger Belästigung durch den Sand ausgesetzt. Man lebte hier wie ein aus der Spur geratener Wagen, der mit quietschenden Achsen über unwegsames Gelände rollt.
Den ganzen Tag ging Darenski die Artilleriepositionen ab, sprach mit den Leuten, notierte, fotografierte Lagepläne, inspizierte Geschütze und Munitionslager. Gegen Abend war er völlig ausgedörrt, sein Kopf brummte, die Füße, die nicht an den knirschenden Sandboden gewöhnt waren, schmerzten.
Es war ihm schon lange aufgefallen, dass Generäle während des Rückzugs besonders aufgeschlossen sind für die Nöte ihrer Untergebenen. Die Kommandeure und Mitglieder der Militärsowjets waren dann besonders selbstkritisch, skeptisch und bescheiden.
Nie gibt es in der Armee so viele kluge, verständnisvolle Leute wie in den Zeiten schmerzhafter Rückzüge, wenn der Gegner eindeutig überlegen ist und das wütende Oberkommando nach Sündenböcken sucht.
Hier jedoch, in der Sandsteppe, waren die Leute von einer schläfrigen Gleichgültigkeit. Stabschefs und Truppenkommandeure schienen von der Gewissheit beseelt, dass für sie auf dieser Welt nichts mehr von Interesse sein könnte, da es ja morgen, übermorgen und auch in einem Jahr doch nichts als Sand geben würde.
Oberstleutnant Bowa, der Stabschef des Artillerieregiments, lud Darenski ein, die Nacht in seiner Unterkunft zu verbringen Dem Äußeren nach entsprach Bowa keineswegs dem russischen Märchenhelden, mit dem er den Namen teilte; er hielt sich schlecht, war kahlköpfig und auf einem Ohr schwerhörig. Einmal war er einem Aufruf zum Artilleriefrontstab gefolgt und hatte alle durch sein ungewöhnliches Gedächtnis in Staunen versetzt. Man hätte denken können, in seinem kahlen Kopf auf dem krummen Rücken sei für nichts anderes Platz als für Zahlen, Batterie- und Divisionsnummern, Ortsnamen, Namen der Kommandeure und Dienstgrade.
Bowa wohnte in einer Holzhütte, deren Wände mit Lehm und Mist abgedichtet waren; den Bodenbelag bildeten Dachpappenreste. Auch die übrigen Kommandeure hausten in solchen über die Sandebene verstreuten Hütten.
»Ah, prima«, sagte Bowa und schüttelte Darenski schwungvoll die Hand. »Nicht schlecht, was?«, meinte er, auf die Wände deutend. »In dieser kotbeschmierten Hundehütte kann man sogar den Winter überstehen.«
»Ja, die Unterkunft ist nicht gerade toll«, nickte Darenski, der sich wunderte, dass der stille Bowa plötzlich so aus sich herausging.
Bowa bot Darenski eine Kiste zum Sitzen an, die vorher amerikanische Konserven enthalten hatte, schenkte Wodka in ein unsauberes, zahnpastaverschmiertes, aber geschliffenes Glas und schob ihm auf einem durchweichten Zeitungspapier eine grüne eingemachte Tomate zu.
»Bitte sehr, Genosse Oberstleutnant, Wein und Früchte«, lachte er. Darenski nippte, den Nichttrinker verratend, vorsichtig an seinem Glas und schob es dann weit von sich weg. Er begann, Bowa über die Armee auszufragen, aber dieser wich dem dienstlichen Gespräch aus.
»Ach, Genosse Oberstleutnant«, sagte er, »ich hab mir den Kopf mit diesem Dienstkram vollgestopft, hab darüber ganz vergessen, mich zu amüsieren, und was hätte es da für Weiber gegeben, als wir in der Ukraine und am Kuban standen – man hätte nur zu zwinkern brauchen, schon hätte man sie gehabt! Und ich Dummkopf hab mir in der Operationsabteilung den Hintern platt gesessen und bin zu spät, erst hier im Sand,
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