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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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ihm als seinerzeit zu Nowikow beim Südweststab. Es hieß, ganze Seiten seiner Aufzeichnungen wurden in die Rapports aufgenommen, die seine Vorgesetzten an noch höhere Vorgesetzte in Moskau sandten. In schweren Zeiten wurden also sowohl sein Verstand als auch seine Arbeit gebraucht. Seine Frau hatte ihn fünf Jahre vor dem Krieg verlassen, weil sie in ihm einen Volksfeind erkannt zu haben glaubte, der seine »schleimige, heuchlerische« Natur die ganze Zeit vor ihr verborgen hatte. Seine adlige Herkunft, sowohl väterlicher- als auch mütterlicherseits, hatte oft verhindert, dass er eine Stelle bekam. Es hatte ihn zunächst gekränkt, wenn er erfuhr, dass der fragliche Posten statt an ihn an einen Dummkopf oder Fachidioten vergeben worden war. Dann hatte er sich allmählich eingeredet, dass man ihm vielleicht wirklich keine verantwortungsvolle Arbeit anvertrauen könne, und nach seiner Lagerhaft war er endgültig von seiner Minderwertigkeit überzeugt gewesen.
    Jetzt plötzlich, in diesem schrecklichen Krieg, zeigte sich das Gegenteil.
    Er zog den Mantel über seine Schultern, wobei er seine Fülle der unter der Tür hereinströmenden kalten Nachtluft aussetzte, und dachte, dass er sich jetzt, wo seine Fähigkeiten endlich anerkannt und gebraucht wurden, in einem Hühnerstall auf dem Boden wälzen und die schrillen, widerlichen Schreie der Kamele anhören musste; anstatt von Kurorten und Sommerhäuschen träumte er jetzt von einem Paar sauberer Unterhosen und der Möglichkeit, sich mit einem winzigen Rest Kernseife zu waschen. So stolz er darauf war, dass sein Aufstieg nicht mit materiellen Gütern verbunden war, so sehr verdross es ihn auch wieder. Er war sich durchaus bewusst, dass seiner Selbstsicherheit auf fachlichem Gebiet eine unüberwindliche Schüchternheit im privaten Bereich gegenüberstand, die ihn zeit seines Lebens daran hindern würde, zu Wohlstand zu kommen. Von Kind an hatte er sich stets unsicher gefühlt, war er ständig in Geldnot gewesen und hatte unter seiner schäbigen, abgetragenen Kleidung gelitten, und daran hatte auch sein jetziger beruflicher Erfolg nichts geändert. Der Gedanke, dass die Bedienung im Kasino des Kriegsrats zu ihm sagen könnte: ›Sie müssen aber in der Kantine desWojentorg 3 essen, Genosse Oberstleutnant‹, erfüllte ihn mit Grauen. Auf irgendeiner Sitzung würde ihm dann einer der Spaßvögel unter den Generälen zuzwinkern und sagen: »Na, Oberstleutnant, wie ist so ein kräftiger Borschtsch im Kasino des Kriegsrats?«
    Die Unverfrorenheit, mit der nicht nur Generäle, sondern auch Frontreporter Benzin, Kleidung und Zigaretten an Orten verlangten, wo sie ihnen gar nicht zustanden, erfüllte ihn immer wieder mit ungläubigem Staunen.
    So war eben das Leben: Sein Vater hatte jahrelang keine Arbeit gefunden, und die Mutter hatte die Familie als Stenotypistin durchgefüttert.
    Irgendwann in der Nacht hörte Bowa auf zu schnarchen, und Darenski, der in die Stille hineinlauschte, die von Bowas Lager kam, wurde unruhig.
    Plötzlich fragte Bowa: »Schlafen Sie nicht, Genosse Oberstleutnant?«
    »Nein, ich kann nicht«, antwortete Darenski.
    »Verzeihen Sie, dass ich Sie nicht besser versorgt habe; ich habe zu viel getrunken«, sagte Bowa. »Aber jetzt habe ich wieder einen klaren Kopf. Sehen Sie, ich liege da und denke: Wie hat es uns nur an diesen scheußlichen Ort verschlagen können. Wer hat uns zu diesem Dreckloch verholfen?«
    »Wer schon, die Deutschen«, antwortete Darenski.
    »Kommen Sie, legen Sie sich jetzt ins Bett. Ich gehe auf den Boden«, sagte Bowa.
    »Ach was, ich fühle mich ganz wohl hier.«
    »Aber es ist doch unbequem, und die kaukasische Gastfreundschaft verbietet es, dass der Gastgeber im Bett und der Gast auf dem Boden schläft.«
    »Wennschon, wir sind ja keine Kaukasier.«
    »Aber es fehlt nicht mehr viel. Die Ausläufer des Kaukasus sind schon ganz nah. Die Deutschen haben uns dazu verholfen, sagen Sie, aber nicht nur die Deutschen, wissen Sie, wir selbst haben auch unseren Anteil daran.«
    Bowa hatte sich offenbar erhoben. Sein Bett quietschte stark.
    »Mm, ja«, murmelte er.
    »Ja, ja«, kam es gedehnt auch von Darenskis Lager.
    Bowa hatte dem Gespräch eine ungewöhnliche Wendung gegeben, und nun überlegten beide, ob man mit einem relativ unbekannten Menschen überhaupt ein solches Gespräch führen dürfe. Beide kamen anscheinend zu einem negativen Ergebnis.
    Bowa zündete sich eine Zigarette an. Das Streichholz erhellte einen Augenblick sein

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