Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
Vom Netzwerk:
Gesicht; es wirkte müde, düster, fremd.
    Darenski zündete sich auch eine Zigarette an. Bowa sah Darenskis Gesicht; es wirkte kalt, hochmütig, fremd.
    Dann aber kam es plötzlich und unerwartet doch zu dem Gespräch, das eigentlich nicht hatte stattfinden sollen.
    »Tja«, sagte Bowa, aber diesmal nicht gedehnt, sondern kurz und entschlossen, »der Bürokratismus und die Bürokratie, die sind es, die uns hierhergebracht haben.«
    »Ja, ja, der Bürokratismus ist eine schlimme Sache«, erwiderte Darenski. »Mein Fahrer hat mal erzählt: Vor dem Krieg hat auf dem Land ein solcher Bürokratismus geherrscht, dass man in seiner Kolchose nichts Schriftliches ausgestellt bekam, wenn man nicht bereit war, einen halben Liter zu opfern.«
    »Scherzen Sie nicht, das ist nicht zum Lachen«, wies ihn Bowa zurecht. »Der Bürokratismus ist kein Witz; er ist schon zu Friedenszeiten ein Kreuz, aber unter Frontbedingungen kann er ganz unerträgliche Formen annehmen. Neulich erst ist ein Pilot aus seiner brennenden Maschine abgesprungen, nachdem ihn eine Messerschmitt erwischt hatte; er selbst ist unversehrt geblieben, aber seine Hose ist verbrannt. Na, und was denken Sie? Man gab ihm keine neue Hose! So ein Skandal! Es hieß einfach, die alte hat nicht bis zum festgesetzten Zeitpunkt gehalten, und vorher gibt’s keine neue! Drei Tage hat der Pilot ohne Hose herumgesessen, bis die Sache endlich vor den Verbandskommandeur kam.«
    »Na ja, verzeihen Sie, aber das ist doch Unsinn. Nur weil sich irgendein Dummkopf mit der Ausgabe einer Hose zu viel Zeit gelassen hat, ist es doch nicht zum Rückzug von Brest bis zur Wüste am Kaspischen Meer gekommen.«
    Bowa versetzte sauer: »Sage ich ja gar nicht. Aber ein anderer Fall: Eine Infanterieabteilung wurde eingeschlossen; die Leute fingen an zu hungern. Eine Fliegereinheit bekam den Befehl, ihnen mit Fallschirmen Lebensmittel abzuwerfen. Aber die Intendantur weigerte sich, die Lebensmittel herauszugeben; der Empfänger, so hieß es, müsse erst quittieren. Ja wie sollten sie denn quittieren, wenn man ihnen das Zeug in Säcken vom Flugzeug aus herabwerfen musste! Der Intendant aber blieb bei seiner Weigerung. Erst auf höheren Befehl hat er sich schließlich erweichen lassen.«
    Darenski musste lachen.
    »Eine komische Geschichte, aber wieder nur ein Einzelfall. Ich gebe Ihnen aber schon recht, der Bürokratismus an der Front kann wirklich schreckliche Formen annehmen. Kennen Sie den Befehl ›Keinen Schritt zurück!‹? – Stellen Sie sich vor, der Deutsche feuert auf Hunderte von unseren Leuten; man bräuchte sie nur hinter den Hügel zurückzunehmen, schon wären sie in Sicherheit; taktisch wäre das kein Verlust, und die technische Ausrüstung bliebe unversehrt. Aber nein, da ist ja der Befehl ›Keinen Schritt zurück‹, und so müssen sie im Kugelhagel aushalten; Ausrüstung und Männer gehen drauf.«
    »Stimmt genau«, nickte Bowa, »1941 haben sie uns zwei Obersten aus Moskau an die Front geschickt; die sollten überprüfen, ob ebendieser Befehl ›Keinen Schritt zurück!‹ auch ausgeführt wurde. Sie hatten kein Auto, und wir türmten gerade in drei Tagen zweihundert Kilometer von Gomel weg. Ich hab die Obersten in meine Karre genommen, damit die Deutschen sie nicht erwischten, und wie sie da so durchgeschüttelt werden, sagen die doch zu mir: ›Geben Sie uns Material über die Durchsetzung des Befehls »Keinen Schritt zurück«!‹ Buchhaltermentalität, da kann man halt nichts machen.«
    Darenski pumpte sich Luft in die Lungen, als wollte er tauchen, und in gewisser Weise tauchte er auch, als er sagte: »Bürokratismus ist schrecklich, wenn ein Rotarmist, MG-Schütze, einen Hügel verteidigt hat, wenn er allein gegen siebzig Deutsche den Angriff aufgehalten hat, schließlich gefallen ist, wenn die Armee sich vor ihm verneigt, den Hut vor ihm zieht, seine schwindsüchtige Frau aber aus der Wohnung gejagt wird und der Vorsitzende des Rayonsowjets sie noch anschreit: ›Fort, du unverschämte Person!‹ Bürokratismus, das ist, wissen Sie, wenn man einem befiehlt, vierundzwanzig Fragebogen auszufüllen, und er schließlich auf einer Versammlung selbst bekennt: ›Genossen, ich gehöre nicht zu euch‹, wenn er sagt: ›Der Staat ist ein Arbeiter- und Bauernstaat, meine Eltern aber waren Adelige, arbeitsscheue Elemente, Blutsauger, jagt mich also zum Teufel, dann herrscht wieder Ordnung.‹«
    »Darin sehe ich nun wieder keinen Bürokratismus«, erwiderte Bowa, »es ist doch in

Weitere Kostenlose Bücher