Leben und Schicksal
er verwirrt – da hatte er sich in seiner Betäubung und Blindheit doch tatsächlich mit der Anwesenheit eines Deutschen getröstet, hatte die Hand des Deutschen für die Poljakows gehalten. Sie schauten sich an. Beide wurden von der gleichen Kraft festgehalten und konnten sich nicht von ihr befreien. Es war, als ob diese Kraft sie beide bedrohte, statt sie voreinander zu schützen.
Sie schwiegen – zwei Produkte des Krieges. Der sonst so unfehlbare Reflex des Tötens, dem sie beide unterlagen, funktionierte nicht. Poljakow kauerte in einiger Entfernung von ihnen am Boden und starrte in das von einem dichten Bart überwucherte Gesicht des Deutschen, und obwohl er das sonst nie lange durchhielt, schwieg er jetzt. Wie furchtbar das Leben auch sein mochte, in der Tiefe ihrer Augen dämmerte in diesem Augenblick die traurige Erkenntnis, dass auch nach dem Krieg die Kraft, die sie in diese Grube gezwungen und mit der Schnauze in den Lehm gepresst hatte, nicht nur die Besiegten zu Boden drücken würde.
Wie auf Kommando begannen dann alle drei, die steile Wand des Trichters hinaufzuklettern, ihre Rücken und Köpfe dem Beschuss aussetzend, der jetzt allerdings nur noch leicht war, doch sie wussten sich nun ganz sicher außer Gefahr.
Poljakow hatte Mühe, hinaufzukommen, aber der neben ihm kletternde Deutsche half ihm nicht; der Alte rutschte immer wieder ab, schimpfte und fluchte, ließ sich aber nicht entmutigen. Klimow und der Deutsche kamen zuerst an die Oberfläche und schauten sich um – der eine nach Osten, der andere nach Westen. Sie vergewisserten sich, dass keiner ihrer Vorgesetzten beobachtete, wie sie da einträchtig aus der Grube krochen, anstatt sich totzuschlagen. Ohne sich anzusehen, gingen sie dann grußlos auseinander, jeder auf der Suche nach den eigenen Stellungen in der zu Hügeln und Tälern umgepflügten, noch rauchenden Erde.
»Unser Haus ist weg, dem Erdboden gleichgemacht«, sagte Klimow erschrocken zu dem hinter ihm auftauchenden Poljakow: »Hat’s euch am Ende alle erwischt, Brüder?«
In diesem Augenblick setzte das Kanonen- und Maschinengewehrfeuer ein. Es heulte und pfiff. Die deutschen Truppen gingen zum Generalangriff über. Es war der schwerste Tag von Stalingrad.
»Alles wegen diesem verdammten Serjoscha«, murmelte Poljakow. Er begriff immer noch nicht, was geschehen war, dass im Haus »sechs Strich eins« keiner mehr lebte, und Klimows heftiges Wehklagen ging ihm auf die Nerven.
24
Während des Luftangriffs hatte eine Bombe den Bataillonsgefechtsstand in der unterirdischen Gasleitungskammer getroffen, in der sich zu diesem Zeitpunkt der Regimentskommandeur Berjoskin mit dem Bataillonskommandeur Dyrkin und dem Bataillonstelefonisten aufhielt. In der völligen Dunkelheit, betäubt und halb erstickt vom Staub der eingestürzten Mauern, dachte Berjoskin zunächst, er sei tot. Doch da hörte er in einer kurzen Gefechtspause Dyrkin niesen und fragen: »Leben Sie noch, Genosse Oberstleutnant?«
Und Berjoskin antwortete: »Ich lebe.«
Dyrkin bekam seine gewohnte gute Laune zurück, als er die Stimme des Regimentskommandeurs hörte.
»Wenn Sie am Leben sind, dann ist alles in Ordnung« krächzte er, gegen Staub und Husten ankämpfend, obwohl von Ordnung wirklich nicht die Rede sein konnte. Dyrkin und der Telefonist lagen unter einem Schotterhaufen und wussten nicht, ob ihre Knochen noch heil waren. Betasten konnten sie sich nicht, weil ein Stahlträger so tief über ihnen hing, dass sie sich nicht aufrichten konnten. Andererseits hatte ihnen dieser Träger ganz offensichtlich das Leben gerettet. Dyrkin knipste die Taschenlampe an, und der Anblick, der sich ihm bot, war wahrhaft furchterregend: Über ihren Köpfen im Staub hingen Steinbrocken, verbogene Eisenteile, übereinandergeschobene mit Schmieröl übergossene Betonplatten und zerfetzte Kabel Beim nächsten Bombeneinschlag würden Eisen und Stein verschmelzen und nicht den kleinsten Spalt mehr übrig lassen, in dem ein Mensch überleben könnte.
Eine Zeitlang schwiegen sie; es schauderte sie – eine rasende Kraft hatte auf die Werksgebäude eingedroschen. Dieses Werk dachte Berjoskin, hat sogar noch mit seinem toten Körper zu unserem Schutz beigetragen – es war schließlich nicht einfach Beton und Eisen zu zerschmettern und die Armierung zu zerfetzen.
Dann klopften und tasteten sie alles ab und erkannten, dass sie aus eigener Kraft niemals herauskommen würden. Das Telefon war ganz, ging aber nicht; die Leitung war
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