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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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den Brief hatte ihm Oberst Nowikow gebracht –, und er dachte an seinen überstürzten Aufbruch nach Tscheljabinsk. Hier hatte er Nina geküsst, und dabei war ihr eine Nadel aus dem Haar gefallen; sie hatten sie nicht mehr finden können Er wurde ganz nervös bei dem Gedanken, dass die Haarnadel plötzlich auftauchen könnte oder dass Nina vielleicht einen Lippenstift oder eine Puderdose liegengelassen hatte.
    Doch in diesem Moment stellte der Fahrer schwer atmend einen Koffer ab, schaute sich im Zimmer um und fragte: »Haben Sie die ganze Wohnung für sich allein?«
    »Ja«, antwortete Strum schuldbewusst.
    »Wir wohnen zu sechst auf acht Quadratmetern«, sagte der Chauffeur. »Großmutter schläft am Tag, wenn alle zur Arbeit sind. Nachts sitzt sie im Sessel.«
    Strum trat ans Fenster. Nadja stand bei den neben dem Wagen aufgetürmten Sachen, hüpfte von einem Fuß auf den anderen und blies sich auf die kalten Finger.
    Die liebe Nadja, seine hilflose Tochter, dies war ihr Elternhaus.
    Der Fahrer brachte einen Sack mit Lebensmitteln und einen zweiten mit Bettzeug, setzte sich auf einen Stuhl und begann sich eine Zigarette zu drehen.
    Offenbar beschäftigte ihn die Wohnungsfrage sehr, denn er unterhielt sich die ganze Zeit mit Strum über die sanitäre Norm und die bestechlichen Leute in der Bezirkswohnungsverwaltung.
    Aus der Küche hörte man das Klappern von Töpfen.
    »Die Hausfrau«, zwinkerte der Fahrer Strum zu.
    Strum war wieder ans Fenster getreten.
    »Eine Ordnung ist das«, sagte der Fahrer. »Wenn sie die Deutschen in Stalingrad wirklich in Stücke hauen und alle aus der Evakuierung zurückkommen, dann wird’s noch ärger mit der Wohnungsnot. Bei uns ist neulich ein Arbeiter nach zwei Verwundungen in die Fabrik zurückgekommen, natürlich war sein Haus zerbombt. Er musste mit der Familie in einen leerstehenden Keller ziehen, natürlich wurde die Frau schwanger, und sie hatten schon zwei tuberkulöse Kinder. Dann ist Wasser in den Keller gelaufen, mehr als kniehoch. Sie haben Bretter auf Hocker gelegt und sind darauf vom Bett zum Tisch und vom Tisch zum Herd balanciert. Er hat alles versucht – im Parteikomitee, im Bezirkskomitee, sogar an Stalin hat er geschrieben. Alle haben Versprechungen gemacht, noch und noch. Nachts hat er dann Frau und Kinder gepackt und sein Zeug und ist einfach in eine Wohnung im vierten Stock gezogen, die für den Bezirkssowjet reserviert war. Ein Zimmer von nicht ganz achteinhalb Quadratmetern. Da gab’s vielleicht einen Aufstand! Der Staatsanwalt hat ihn vorgeladen – innerhalb von vierundzwanzig Stunden räumen oder fünf Jahre Straflager, und die Kinder kommen ins Heim. Was hat er gemacht? Er hatte mehrere Tapferkeitsmedaillen – die hat er sich an die Brust ins bloße Fleisch gerammt und hat sich in der Fabrik in der Mittagspause aufgehängt. Die Kumpels haben’s gemerkt und ihn sofort runtergeholt, und der Krankenwagen hat ihn ins Krankenhaus gebracht. Den Wohnungsschein hat er bekommen, als er noch im Krankenhaus lag, hat Glück gehabt; jetzt hat er zwar auch nicht viel Platz, aber allen Komfort. Ist noch mal gutgegangen.«
    Als der Fahrer mit seiner Geschichte zu Ende war, erschien Nadja.
    »Und wenn jemand die Sachen klaut?«, sagte der Fahrer.
    Nadja zuckte die Schultern, ging durch die Zimmer und blies sich auf ihre erfrorenen Finger.
    Komisch, kaum war Nadja in der Wohnung, da begann Strum sich schon über sie zu ärgern.
    »Schlag wenigstens den Kragen runter«, sagte er, doch Nadja schüttelte den Kopf und rief stattdessen in Richtung Küche: »Mama, ich hab schrecklichen Hunger.«
    Ljudmila Nikolajewna war an diesem Tag von so viel Tatendrang erfüllt, dass Strum den Eindruck hatte, wenn sie diese Energie an der Front eingesetzt hätte, dann wären die Deutschen sicher hundert Kilometer vor Moskau zurückgewichen.
    Der Installateur schloss die Heizung an. Die Rohre waren intakt, wenn sie auch wenig Wärme ausstrahlten. Einen Gasinstallateur zu finden war nicht einfach. Ljudmila Nikolajewna telefonierte sich bis zum Direktor des Gasversorgungsnetzes durch, und dieser schickte ihr endlich einen Handwerker der Reparaturkolonne. Ljudmila Nikolajewna machte alle Gasflammen an, stellte Bügeleisen darauf, und obgleich das Gas nur schwach brannte, wurde es in der Küche doch so warm, dass man ohne Mantel dort sitzen konnte. Die Hilfsdienste des Fahrers, des Installateurs und der Gasleute hatten den Proviantsack schon sehr erleichtert.
    Bis spät in den Abend war

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