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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Blick mit Tschepyschin – sein alter Freund und Lehrer durfte ruhig wissen, was Strum durchgemacht, welche Opfer er gebracht hatte und welche Zweifel über ihn gekommen waren. Doch auch aus Tschepyschins Augen sprachen Leid, Sorge und Altersmüdigkeit.
    Sokolow gesellte sich zu ihnen, und während Tschepyschin ihm die Hand drückte, musterte Schischakow Pjotr Lawrentjewitschs abgetragenes Jackett. Als Postojew hinzutrat, strahlte ihn Schischakow über sein ganzes fleischiges Gesicht an und sagte: »Grüß dich, grüß dich, mein Lieber endlich jemand, den ich gern sehe.«
    Sie unterhielten sich über Gesundheit, Frau, Kinder, Sommerhäuser – zwei mächtige, prächtige Riesen.
    Strum fragte Sokolow leise: »Wie geht’s zu Hause, ist die Wohnung warm?«
    »Bis jetzt ist’s nicht viel besser als in Kasan. Mascha lässt Sie sehr grüßen. Sie kommt vielleicht morgen mal vorbei.«
    »Wunderbar«, sagte Strum. »Wir haben schon Sehnsucht nach ihr. In Kasan haben wir sie doch täglich gesehen.«
    »Ja, wirklich, jeden Tag«, sagte Sokolow. »Ich glaube, sie war mindestens dreimal täglich bei Ihnen. Ich hatte ihr schon vorgeschlagen, ganz zu Ihnen zu ziehen.«
    Strum lachte und merkte gleichzeitig, dass sein Lachen nicht ganz echt war. Jetzt betrat der Mathematiker Leontjew den Saal. Mit seiner großen Nase, dem gewaltigen kahlen Schädel und der riesigen, gelb geränderten Brille fiel er sofort auf. Als sie einmal zusammen in Gaspra waren, hatten sie einen Ausflug nach Jalta gemacht, hatten dort in der Winzergenossenschaft eine Menge Wein getrunken und waren dann mit einem frivolen Lied auf den Lippen in den Speisesaal in Gaspra eingezogen, wo sie das Personal in Aufruhr versetzt und die übrigen Kurgäste köstlich amüsiert hatten. Leontjew lächelte Strum zu. Der senkte die Augen in Erwartung eines Kommentars zu seiner Arbeit. Doch Leontjew lagen offenbar die gasprischen Abenteuer näher, denn er winkte ihm zu und schrie: »Na, Viktor Pawlowitsch, wollen wir mal wieder singen?«
    Ein schwarzhaariger junger Mann in schwarzem Anzug kam herein, und Strum bemerkte, dass Schischakow sofort auf ihn zuging und ihn begrüßte.
    Auch Suslakow, der irgendein wichtiges, aber undurchsichtiges Amt im Präsidium bekleidete, ging auf den jungen Mann zu. Von Suslakow wusste man nur, dass es mit seiner Hilfe leichter gelang als mit der des Präsidenten, einen habilitierten Wissenschaftler von Alma-Ata nach Kasan zu versetzen und eine Wohnung zu bekommen. Er war ein Mann mit altem, müdem Gesicht und fahlen, teigig grauen Wangen, einer von denen, die auch nachts arbeiten und die alle immer brauchen.
    Alle waren daran gewöhnt, dass Suslakow in den Sitzungen »Palmira« rauchte, die Akademiemitglieder dagegen nur einfachen Tabak und Machorka, und dass beim Verlassen der Akademie die Prominenz nicht etwa ihm einen Platz in ihrem Wagen anbot, sondern umgekehrt er zu seiner SIS-Limousine schritt und der Prominenz eine Mitfahrgelegenheit anbot.
    Jetzt sah Strum, der das Gespräch Suslakows mit dem schwarzhaarigen jungen Mann beobachtete, dass dieser sich offenbar nicht mit einem Anliegen an Suslakow wandte – so delikat auch immer eine Bitte vorgetragen wird, man merkt doch, wer der Bittende und wer der Gebetene ist. Im Gegenteil, der junge Mann schien es eilig zu haben, Suslakow zu entkommen. Er grüßte Tschepyschin mit betonter Höflichkeit, doch diese Höflichkeit enthielt eine kaum wahrnehmbare, aber dennoch nicht zu übersehende Geringschätzung.
    »Wer ist denn dieser junge Würdenträger?«, fragte Strum.
    Postojew murmelte: »Er arbeitet seit kurzem in der Wissenschaftsabteilung des ZK.«
    »Wissen Sie«, sagte Strum, »ich habe das seltsame Gefühl dass unser Widerstand in Stalingrad der Widerstand Newtons und Einsteins ist, dass unser Sieg an der Wolga den Sieg der Ideen Einsteins bedeutet, verstehen Sie das?«
    Schischakow grinste verständnislos und schüttelte leicht den Kopf.
    »Verstehen Sie das nicht, Alexej Alexejewitsch?«, fragte Strum.
    »Ja, dunkel ist der Worte Sinn«, sagte lächelnd der junge Mann aus der Wissenschaftsabteilung, der plötzlich neben ihnen stand. »Wahrscheinlich ist es gerade die sogenannte Relativitätstheorie, die uns helfen kann, eine Verbindung zwischen der russischen Wolga und Albert Einstein herzustellen.«
    »Die sogenannte?«, fragte Strum verwundert, und sein Gesicht verfinsterte sich.
    Hilfesuchend sah er Schischakow an, doch offenbar erstreckte sich die stumme Verachtung des

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