Leben und Schicksal
von politischen Verhaftungen gehört, und viele, darunter auch Strum, hatten angenommen, dass dieses schreckliche Kapitel für immer abgeschlossen war.
Man erinnerte sich wieder an das Jahr 1937, in dem man fast täglich Namen von Leuten hörte, die in der vergangenen Nacht verhaftet worden waren; dachte daran, wie man sich darüber am Telefon verständigt hatte: »Heute Nacht ist Anna Andrejewnas Mann krank geworden …« Man erinnerte sich auch daran, wie die Nachbarn am Telefon gesagt hatten: »Der ist abgereist, und wann er zurückkommt, weiß man nicht …« Man erinnerte sich an die Berichte über den Hergang solcher Verhaftungen. Da wurde einer beim Baden seines Kindes abgeführt, andere wurden von ihrem Arbeitsplatz weg verhaftet, manche im Theater oder mitten in der Nacht festgenommen. Auch daran erinnerte man sich nun: »Die Hausdurchsuchung hat zwei Tage gedauert. Sie haben alles durchgewühlt, sogar die Böden haben sie aufgerissen … Angeschaut haben sie fast nichts, nur anstandshalber in ein paar Büchern geblättert …«
Die Namen von Menschen, die weggegangen und nicht zurückgekommen waren, waren wieder in aller Munde: Die Akademiemitglieder Wawilow und Wise, der Dichter Mandelstam, die Schriftsteller Babel und Pilnjak; Meyerhold, die Bakteriologen Korschunow und Slatogorow, Professor Pletnew, Doktor Lewin …
Doch das Schlimme war nicht, dass die Verhafteten berühmte und bekannte Männer gewesen waren, sondern dass sowohl die Berühmten als auch die Unbekannten, Unscheinbaren unschuldig, dass sie alle ehrliche, grundanständige Leute gewesen waren.
Würde das nun wieder alles von vorn anfangen? Würde auch nach dem Krieg jedes Herz vor nächtlichen Schritten und dem Hupen eines Autos zittern müssen?
Wie schwer war es doch, diesen Krieg um die Freiheit mit derartigen Dingen in Einklang zu bringen. »Ja, ja, wir hätten bei unseren Gesprächen in Kasan unsere Zunge besser hüten sollen«, dachte Strum.
Eine Woche nach Tschetwerikows Verhaftung erklärte Tschepyschin seinen Rücktritt vom Amt des wissenschaftlichen Leiters des physikalischen Instituts, und an seine Stelle trat Schischakow.
Der Präsident der Akademie besuchte Tschepyschin zu Hause; es hieß, sogar Berija oder Malenkow hätten Tschepyschin zu sich beordert, doch er habe sich standhaft geweigert, den Themenplan des Instituts umzustoßen.
Aus Rücksicht auf seine großen wissenschaftlichen Verdienste so wurde erklärt, habe man zunächst auf extreme Maßnahmen verzichtet. Gleichzeitig wurde der Verwaltungsdirektor, ein junger Liberaler namens Pimenow, abgelöst, da er den Anforderungen nicht genüge.
Dem Akademiemitglied Schischakow wurden das Amt des Direktors und die wissenschaftliche Leitung übertragen, die Tschepyschin innegehabt hatte.
Es ging das Gerücht, Tschepyschin habe nach diesen Ereignissen einen Herzanfall erlitten. Strum wollte ihn sofort besuchen, rief aber vorsichtshalber vorher an und erfuhr von der Hausangestellten, Dmitri Petrowitsch habe sich tatsächlich die letzten Tage sehr schlecht gefühlt und sei auf Anraten seines Arztes mit Nadeschda Fjodorowna für ein paar Wochen aufs Land gefahren.
Strum sagte zu Ljudmila: »So ist das also. Wie einen Rotzlümmel haben sie ihn vom Trittbrett gestoßen, und das nennt sich dann Schutz vor den Araktschejewisten. Für die Physik ist es doch egal, ob Tschepyschin Marxist, Buddhist oder Lamaist ist. Tschepyschin hat eine Schule begründet. Tschepyschin ist ein Freund von Rutherford. Die Tschepyschin’sche Gleichung kennt jeder Hausmeister.«
»Na, was den Hausmeister betrifft, Papa, da übertreibst du wohl ein bisschen«, sagte Nadja.
Strum erwiderte: »Pass auf, wenn du redest, bringst du nicht nur dich, sondern uns alle in Gefahr.«
»Ich weiß, ich weiß, diese Reden sind nur für den Hausgebrauch.«
Strum sagte: »Ach, Nadjenka, was kann ich denn gegen eine Entscheidung des ZK ausrichten? Soll ich mit dem Kopf gegen die Wand rennen? Dmitri Petrowitsch hat ja selbst gesagt, dass er gehen will … Und wie es so schön heißt: Das Volk hat seine Tätigkeit nicht gebilligt.«
»Du brauchst dich gar nicht so aufzuregen«, wies Ljudmila Nikolajewna ihren Mann zurecht, »du hast dich ja auch schon oft mit Dmitri Petrowitsch gestritten.«
»Wenn man sich nicht streitet, ist man auch nicht wirklich befreundet.«
»Ja, ja«, sagte Ljudmila Nikolajewna bitter, »und wenn du so weiterredest, dann werden sie dir auch noch die Leitung des Labors
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