Leben und Schicksal
die Frage nicht übel, sondern sagte freundlich: »Viktor Pawlowitsch, ärgern Sie sich nicht. Glauben Sie denn, dass so ein Schischakow Ihre Arbeit zu würdigen weiß? Ach, mein Gott, mein Gott, wie viel Stroh wird hier gedroschen, aber Ihre Arbeit, die ist wirklich was.«
Aus seinen Augen und aus seiner Stimme sprachen der Ernst und die Wärme, die Strum von ihm erwartet hatte, als er an jenem Herbstabend in Kasan zu ihm gekommen war, um ihm von seiner Arbeit zu berichten. Damals war er enttäuscht worden.
Die Versammlung begann. Die Redner sprachen über die Aufgaben der Wissenschaft in der schweren Kriegszeit, über die Bereitschaft, ihre Kräfte der Sache des Volkes zu widmen, der Armee in ihrem Kampf gegen den Hitler-Faschismus beizustehen. Man sprach über die Arbeit der Institute der Akademie, über die Hilfe, die das ZK den Wissenschaftlern gewähren wolle, darüber, dass Genosse Stalin, der die Armee und das Volk führe, Zeit fände, sich für Fragen der Wissenschaft zu interessieren, und darüber, dass die Gelehrten das Vertrauen, das die Partei und Genosse Stalin in sie setzten, auch rechtfertigen müssten.
Es war auch die Rede von organisatorischen Veränderungen, die sich aus der neuen Situation ergäben. Die Physiker erfuhren zu ihrem Erstaunen, dass man mit den wissenschaftlichen Plänen ihres Instituts nicht zufrieden sei, weil darin den Fragen der Theorie zu viel Raum gegeben werde. Im Saal flüsterte man sich die Worte Suslakows zu: »Das Institut ist zu lebensfern.«
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Im ZK der Partei war der Stand der wissenschaftlichen Arbeit im Land erörtert worden. Es hieß, die Partei werde von nun an die Entwicklung der Physik, der Mathematik und der Chemie vorrangig behandeln.
Es war die Ansicht vorgebracht worden, die Wissenschaft müsse sich mehr den praktischen Bedürfnissen der Produktion zuwenden und einen engeren Bezug zum täglichen Leben herstellen.
Sogar Stalin hatte, wie man hörte, an der Sitzung teilgenommen und war, wie das so seine Art war, mit der Pfeife in der Hand im Saal auf und ab gegangen, hatte seinen Rundgang gelegentlich grübelnd unterbrochen und den Worten der Redner oder seinen eigenen Überlegungen gelauscht.
Die Konferenzteilnehmer waren mit aller Schärfe gegen den Idealismus und die Geringschätzung der vaterländischen Philosophie und Wissenschaft zu Felde gezogen.
Stalin hatte zweimal in die Debatte eingegriffen, einmal, als Schtscherbakow sich für eine Kürzung des Budgets der Akademie aussprach; da hatte Stalin energisch den Kopf geschüttelt und gesagt: »Wissenschaft machen ist nicht Seife kochen. An der Akademie wird nicht gespart.«
Der zweite Einwurf bezog sich auf die schädlichen idealistischen Theorien und die übertriebene Vorliebe eines Teils der Wissenschaftler für westliche Lehren. Stalin nickte und sagte: »Man muss unsere Leute unbedingt vor denAraktschejewisten 5 schützen.«
Die Wissenschaftler, die zu dieser Sitzung eingeladen worden waren, berichteten ihren Freunden unter dem Siegel der Verschwiegenheit von der Debatte, und binnen drei Tagen diskutierte das gesamte akademische Moskau in Dutzenden von Familien- und Freundeskreisen halblaut alle Einzelheiten der Sitzung.
Es wurde geflüstert, Stalin sei grau geworden, habe schwarze, faule Zähne und ein pockennarbiges Gesicht, dafür aber schöne, feingliedrige Hände.
Die bei diesen Gesprächen anwesenden Minderjährigen wurden streng ermahnt: »Wenn du ein Wort sagst, bringst du nicht nur dich, sondern uns alle in Gefahr.«
Alle glaubten, dass sich die Situation der Wissenschaftler nun erheblich verbessern werde, und man setzte große Hoffnungen auf die Worte Stalins über die Araktschejewisten.
Wenige Tage nach der Sitzung wurde der bekannte Botaniker und Genetiker Tschetwerikow verhaftet. Über den Grund der Verhaftung kursierten verschiedene Gerüchte. Die einen sagten, er sei ein Spion gewesen, andere, er habe sich bei seinen Auslandsaufenthalten mit russischen Emigranten getroffen; wieder andere wollten wissen, dass seine Frau, eine Deutsche, vor dem Krieg mit ihrer in Berlin lebenden Schwester korrespondiert habe; wieder andere behaupteten, er habe versucht, untaugliche Weizensorten einzuführen, um Seuchen und Missernten auszulösen, und einige verbürgten sich dafür, dass seine Verhaftung mit einer Bemerkung über den»Zeigefinger« 6 oder aber mit einem politischen Witz zusammenhänge, den er einem Jugendfreund anvertraut habe.
Während des Krieges hatte man relativ selten
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