Leben und Schicksal
umschmeichelt. Der Hund begleitete ihn in den Hausflur, und die Wirtin, die dort nach irgend etwas herumkramte, schnauzte ihn an: »Raus mit dir, verfluchter Köter!« Dann begrüßte sie Krymow ebenso missgelaunt wie der Chef der Politverwaltung.
Wie ungemütlich und einsam erschien ihm nach den sympathischen Stalingrader Erdhütten, den mit Zeltbahnen gedeckten Notunterkünften und den feuchten, rauchigen Unterständen jetzt dieses stille Zimmer: ein Bett, ein Kissen mit weißem Bezug, Spitzenstores an den Fenstern …
Krymow setzte sich an den Tisch und machte sich an seinen Bericht. Er schrieb schnell, ohne viel von seinen Notizen Gebrauch zu machen. Am schwersten fiel ihm der Bericht über das Haus »sechs Strich eins«. Er stand auf, ging im Zimmer umher, setzte sich wieder, stand wieder auf, ging in den Flur hinaus, räusperte sich, lauschte – »die alte Vettel könnte mir wirklich mal Tee bringen«. Dann schöpfte er mit einem Krug Wasser aus der Tonne. Das Wasser war gut, besser als in Stalingrad. Er kehrte in sein Zimmer zurück, setzte sich an den Tisch, griff zum Federhalter und dachte nach. Dann legte er sich aufs Bett und schloss die Augen.
Wie war es denn nun gewesen? Grekow hatte auf ihn geschossen!
In Stalingrad hatte er sich den Menschen so nah gefühlt, dort war ihm das Atmen so leicht geworden. In Stalingrad gab es nicht diese ausdruckslosen, gleichgültigen Blicke. Als er zu dem Haus »sechs Strich eins« unterwegs war, hatte er ganz intensiv den Geist Lenins gespürt. Kaum aber war er hierher zurückgekehrt, da fühlte er sofort Spott und Ablehnung und fing selbst an, andere zu ärgern, zurechtzuweisen und zu bedrohen. Warum hatte er Suworow erwähnt? Grekow hatte auf ihn geschossen! Heute fühlte er sich besonders einsam; er litt unter der Arroganz und Herablassung der Leute, die für ihn nur halbgebildete Esel, Wickelkinder der Partei waren. Wie beklemmend war es doch gewesen, vor Toschtschejew zu sitzen, seinem ärgerlichen, halb ironischen, halb verächtlichen Blick standhalten zu müssen. Mit all seinen Rangabzeichen und Orden konnte doch Toschtschejew, wenn man einmal nach der echten Parteiarbeit ging, ihm, Krymow, nicht das Wasser reichen. Das waren zufällige Parteizuläufer ohne Lenin’sche Tradition. Viele von ihnen waren 1937 hochgekommen, hatten denunziert und Volksfeinde entlarvt. Wie herrlich war doch dagegen das Gefühl des Vertrauens, der Leichtigkeit und Kraft gewesen, mit dem er durch den unterirdischen Gang auf den entfernten Punkt des Tageslichts zugegangen war.
Er wurde ganz schwach vor Wut – Grekow hatte ihm dieses ersehnte Dasein verpfuscht. Als er in dieses Haus gekommen war, hatte er sich über die Wendung seines Schicksals gefreut. In diesem Haus, das hatte er gefühlt, lebte die Lenin’sche Wahrheit. Grekow hatte auf einen lenintreuen Bolschewiken geschossen, hatte Krymow in die Sterilität des Achtubinsker Amtsstubenmiefs zurückgeworfen! Dieser Schuft!
Er setzte sich wieder an den Tisch. Nichts von dem, was er schrieb, war unwahr.
Er las das Geschriebene durch. Natürlich würde Toschtschejew seinen Bericht an die Sonderabteilung weitergeben. Grekow hatte sich der Notzucht, der politischen Zersetzung einer Militäreinheit und eines Terroraktes schuldig gemacht – Letzteres, indem er auf einen Vertreter der Partei, einen Kriegskommissar, geschossen hatte. Man würde Krymow als Zeugen laden, wahrscheinlich auch dem verhafteten Grekow gegenüberstellen.
Er stellte sich vor, wie Grekow vor dem Tisch des Staatsanwalts sitzen würde, unrasiert, mit gelblichem, blassem Gesicht und ohne Gürtel.
Wie hatte doch Grekow gesagt: »Sie leiden. Aber davon schreibt man nichts in den Kampfbericht.«
Der Generalsekretär der marxistisch-leninistischen Partei war für unfehlbar, ja geradezu für heilig erklärt worden! Im Jahre 1937 hatte Stalin das Leben der alten Lenin’schen Garde nicht geschont. Er hatte gegen den Lenin’schen Geist verstoßen, um Parteidemokratie mit eiserner Disziplin zu verbinden.
War es vorstellbar, konnte es richtig sein, mit solcher Härte gegen Mitglieder der Lenin’schen Partei vorzugehen? Man würde Grekow vor den angetretenen Soldaten erschießen. Es war schrecklich, gegen die eigenen Leute vorgehen zu müssen, aber Grekow war ja keiner der eigenen, er war ein Feind!
Krymow selbst hatte nie daran gezweifelt, dass die Partei das Recht hatte, das Schwert der Diktatur zu führen, dass der Revolution das heilige Recht zustand, ihre
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