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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Frühstück und fuhren dann in mehreren Wagen aus dem Eichenwäldchen auf die große, zur Wolga führende Straße.
    Auf dieser Straße bewegten sich nachts Panzer und Artillerie zur Fähre im Süden bei Tumak. Die vom Krieg in braune, gefrorene Schlammklumpen und zinnfarbene, vereiste Pfützen zerpflügte Steppe bot einen trostlosen Anblick. Auf der Wolga trieben Eisschollen; ihr Knirschen war kilometerweit vom Ufer entfernt zu hören. Ein starker, eiskalter Wind blies den Fluss herauf, und die Überfahrt auf einem offenen eisernen Lastkahn war an diesem Tag alles andere als vergnüglich.
    Die Rotarmisten, die auf das Übersetzen warteten, saßen dicht aneinandergeschmiegt auf dem Lastkahn, ihre Mäntel blähten sich im eisigen Wind, sie vermieden jede Berührung mit dem eiskalten Metall. Mit eingezogenen Zehen stampften sie einen grimmigen Tanz, aber wenn eine eisige Böe aus Astrachan kam, fanden sie nicht einmal mehr die Kraft, in die Hände zu blasen, die Arme um den Körper zu schlagen oder den Rotz von der Nase zu wischen; sie erstarrten ganz einfach. Aus dem Schornstein des Dampfers kam schwarzer Rauch und legte sich in Fetzen über den Fluss. Vor dem Hintergrund des Eises erschien er besonders schwarz, das Eis unter ihm besonders weiß. Vom anderen Ufer trug das Eis den Krieg herüber.
    Eine Krähe mit besonders großem Kopf saß auf einer Eisscholle und überlegte – und es gab allerhand zu überlegen: Auf einer Eisscholle neben ihr lag der angesengte Rockschoß eines Soldatenmantels, aus einer anderen ragten ein versteinerter Filzstiefel und ein Karabiner heraus, der mit der verbogenen Mündung im Eis festgefroren war. Die Pkws der Sekretäre und Büromitglieder fuhren auf die Fähre. Die Männer stiegen aus, schauten über die Bordwände auf das langsam treibende Eis und lauschten seinem Knirschen.
    Ein Alter mit blauen Lippen, einer Rotarmistenmütze und einem schwarzen Halbpelz, der Kahnführer, trat auf den Transportsekretär des Gebietskomitees, Laktionow, zu und sagte mit unvorstellbar heiserer Stimme, wie sie nur eine Kombination aus feuchtkalter Flussluft und langjährigem Genuss von Wodka und Tabak hervorgebracht haben konnte: »Genosse Sekretär, als wir heute früh zum ersten Mal fuhren, lag ein Matrose auf dem Eis. Die Jungs haben ihn raufgeholt, wären fast mit ihm ersoffen, mussten ihn mit Brechstangen raushauen – dort drüben liegt er unter einer Plane am Ufer.«
    Der Alte zeigte mit dem schmutzigen Handschuh zum Ufer hinüber. Laktionow strengte seine Augen an, konnte aber die aus dem Eis geschlagene Leiche nicht ausmachen und fragte stattdessen mit gewollt grober Stimme, hinter der sich seine Unsicherheit verbarg: »Wie steht’s mit den Deutschen hier? Wann kommen sie gewöhnlich?«
    Der Alte winkte ab: »Die haben nicht mehr viel zu bombardieren.«
    Er fing an, auf die geschwächten Deutschen zu schimpfen, und dabei klärte sich plötzlich seine Stimme und klang laut und fröhlich.
    Langsam näherte sich die Fähre am Schleppseil dem Beketowka’schen, dem Stalingrader Ufer, das gar nicht kriegsmäßig, sondern eher friedlich aussah mit seiner Anhäufung von Lagerhäusern, Buden und Baracken.
    Die zur Feier reisenden Sekretäre und Büromitglieder wurden des Stehens in dem eiskalten Wind bald müde und stiegen wieder in die Wagen ein. Durch die Scheiben betrachteten die Rotarmisten sie wie Fische im Warmwasseraquarium. Die Parteiführer des Gebiets Stalingrad rauchten, kratzten und unterhielten sich …
    Die Festsitzung sollte nachts stattfinden. Die getippten Einladungen unterschieden sich von jenen der Friedenszeit nur dadurch, dass das graue, grobporige Papier noch schlechter und der Ort der Versammlung nicht angegeben war.
    Die Parteiführer Stalingrads, die Gäste aus der 64. Armee und die Ingenieure und Arbeiter der umliegenden Fabriken kamen mit Führern, die sich in dem schwierigen Gelände auskannten: »Hier ist eine Kurve, da noch eine, Vorsicht, da ist ein Bombentrichter, dort liegen Schienen, vorsichtiger, hier ist eine Kalkgrube …«
    Von überall her hörte man in der völligen Finsternis Stimmen und das Knirschen vorsichtiger Schritte.
    Krymow, dem es gelungen war, nach der Überfahrt gleich in die Politabteilung der Armee zu kommen, fuhr mit den Vertretern der 64. Armee zur Feier.
    Die heimliche, auseinandergezogene Bewegung der Menschen, die sich im nächtlichen Dunkel durch das Labyrinth der Fabrikgebäude schlugen, erinnerte ihn an revolutionäre Feiern im alten

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