Leben und Schicksal
Kampfhandlungen gegen die deutsch-faschistischen Invasoren beteilige. Er führte Zahlen über den Anteil der Arbeiter der Stadt in der Volkswehr an und verlas, mit der Anmerkung, dass die Angaben nicht vollständig seien, die Zahl der Stalingrader, die wegen vorbildlicher Ausführung der Befehle des Oberkommandos und des dabei bewiesenen Heldenmutes ausgezeichnet worden waren.
Krymow lauschte der unbewegten Stimme des Ersten Sekretärs und erkannte, dass in dem krassen Widerspruch zwischen seinen Gedanken und Gefühlen und den Worten über die Planerfüllung der Landwirtschaft und Industrie der Region nicht etwa die Sinnlosigkeit, sondern gerade der Sinn des Lebens zum Ausdruck kam.
Die Rede Prjachins bestätigte gerade durch ihre völlige Gefühlsleere den unbestreitbaren Triumph des Staates, der von menschlichem Leid und menschlicher Sehnsucht nach Freiheit verteidigt wurde.
Die Gesichter der Arbeiter und Soldaten waren ernst, ja finster.
Wie seltsam und qualvoll war es doch, an die Stalingrader Tarassow und Batjuk und an die Gespräche mit den Soldaten in dem eingeschlossenen Haus »sechs Strich eins« zu denken. Wie unangenehm und schwer war der Gedanke an Grekow, der in den Trümmern des eingeschlossenen Hauses umgekommen war.
Was bedeutete ihm denn Grekow, der jene empörenden Worte zu ihm gesagt hatte? Grekow hatte auf ihn geschossen! Warum klangen die Worte Prjachins, seines alten Genossen, des Ersten Sekretärs des Stalingrader Gebietskomitees, so fremd und kalt in seinen Ohren?
Wie seltsam und schwierig das alles war …
Prjachin war endlich beim Schluss seines Vortrags angelangt und sagte: »Wir sind glücklich, dem Genossen Stalin berichten zu können, dass die Arbeiter der Region ihre Pflicht gegenüber dem Sowjetstaat erfüllt haben …«
Nach dem Vortrag hielt Krymow, der sich mit der Menge zum Ausgang drängte, Ausschau nach Prjachin. Das war doch kein Vortrag gewesen, wie ihn diese Zeit des Kampfes um Stalingrad verlangte!
Plötzlich entdeckte er ihn unweit des Podiums im Gespräch mit dem Befehlshaber der 64. Armee. Prjachin schaute mit aufmerksamem, ernstem Blick zu Krymow hinüber; als er merkte, dass Krymow in seine Richtung sah, wandte er sich langsam ab.
»Was soll das heißen?«, dachte Krymow.
39
Nach der Festsitzung fand Krymow eine Mitfahrgelegenheit zum Elektrizitätswerk »Stalgres«.
Das Kraftwerk bot einen bedrohlichen Anblick in dieser Nacht. Am Vorabend war es von schweren Bomberverbänden angegriffen worden. Die Bomben hatten Trichter gerissen und die klumpige Erde zu großen Bodenwellen aufgeworfen. Die fensterlosen Werksgebäude waren durch die Erschütterung an manchen Stellen in die Erde eingesunken; das dreistöckige Bürohaus lag in Trümmern.
Ein niedrig züngelndes Feuer brannte auf den Öltanks.
Der Wachsoldat, ein junger Georgier, führte Krymow über den vom Feuer erhellten Hof. Krymow bemerkte, dass die Zigarette in der Hand seines Führers zitterte – von tonnenschweren Bomben getroffen, stürzen nicht nur Steingebäude ein und brennen; auch der Mensch stürzt ins Chaos.
An ein Zusammentreffen mit Spiridonow hatte Krymow schon gedacht, als er den Marschbefehl nach Beketowka in Händen hielt.
Wie, wenn Genia hier wäre, im Kraftwerk? Vielleicht hatte Spiridonow Nachricht von ihr; vielleicht einen Brief? Vielleicht hieß es darin am Schluss: »Wissen Sie nicht etwas von Nikolai Grigorjewitsch?«
Er war aufgeregt und voll froher Erwartung. Vielleicht würde Spiridonow sagen: »Jewgenia Nikolajewna war die ganze Zeit so traurig«, oder vielleicht: »Sie hat geweint, wissen Sie.«
Das Verlangen, zum »Stalgres« zu fahren, war im Laufe des Tages immer stärker geworden. Er hätte gerne wenigstens ein paar Minuten bei Spiridonow hereingeschaut. Doch er bezwang seinen Wunsch und fuhr zum Gefechtsstand der 64. Armee, obwohl der Instrukteur der Politabteilung ihn flüsternd gewarnt hatte:
»Sie brauchen sich nicht zu beeilen, zum Mitglied des Kriegsrats zu kommen. Er ist seit heute Morgen betrunken.«
In der Tat hatte sich Krymow, wie er bald merkte, ganz umsonst so beeilt. Als er in dem unterirdischen Befehlsstand darauf wartete, empfangen zu werden, hörte er, wie das Mitglied des Kriegsrats hinter einer Sperrholzwand seiner Sekretärin einen Glückwunschbrief an den Nachbarn Tschuikow diktierte. Feierlich tönte er: »Wassili Iwanowitsch, Soldat und Freund …«
Nach diesem Anfang begann der General zu weinen und wiederholte mehrmals schluchzend:
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