Leben und Schicksal
du nicht die Anhöhe eingenommen? Warum Verluste? Warum ohne Verluste? Warum meldest du nicht? Warum schläfst du? Warum …«
Berjoskin erhob sich.
»Gehen wir, Genosse Podtschufarow, ich möchte Ihre Verteidigungsstellung besichtigen.«
Durchdringende Schwermut lag über diesem Gässchen der Arbeitersiedlung, über den bloßgelegten Innenwänden, die mit bunten Tapeten beklebt waren, über den von Panzern aufgepflügten Gärtchen und Gemüsegärten, über den einsamen Herbstdahlien, die irgendwie überlebt hatten und, Gott weiß wofür, blühten.
Unvermittelt sagte Berjoskin zu Podtschufarow: »Wissen Sie, Genosse Podtschufarow, von meiner Frau kommen keine Briefe. Ich hatte sie unterwegs ausfindig gemacht, und jetzt wieder keine Briefe. Ich weiß nur, dass sie mit meiner Tochter in den Ural gefahren ist.«
»Sie werden schon schreiben, Genosse Major«, sagte Podtschufarow.
Im Kellergeschoss eines einstöckigen Hauses lagen Verwundete unter den zugemauerten Fenstern und warteten auf die nächtliche Evakuierung. Auf dem Fußboden standen ein Eimer Wasser und ein Napf, zwischen den Fenstern gegenüber der Tür war eine Ansichtskarte mit dem Motiv »Die Brautwerbung des Majors« an die Wand geheftet.
»Das ist die Etappe«, sagte Podtschufarow, »die Hauptkampflinie kommt noch.«
»Gehen wir bis zur Hauptkampflinie«, sagte Berjoskin.
Sie gingen durch die Diele in ein Zimmer mit eingestürzter Decke, und ein Gefühl erfasste sie, wie es Menschen überkommt, wenn sie durch eine Tür aus dem Fabrikbüro in die Werkshalle treten. In der Luft hing bedrohlich und beißend der Geruch von Treibgas, und unter den Füßen knirschten abgeschossene, scheckige Patronen. In einem cremefarbenen Kinderwagen waren Panzerabwehrminen gestapelt.
»Die kleine Ruine da hat mir der Deutsche in der Nacht weggenommen«, sagte Podtschufarow, ans Fenster tretend. »Zu schade, es war ein gutes Haus mit Fenstern nach Südwesten. Meine ganze linke Flanke liegt von dorther unter Beschuss.«
An den zugemauerten Fenstern, in denen man nur enge Scharten frei gelassen hatte, stand ein schweres Maschinengewehr. Der MG-Schütze ohne Feldmütze, den Kopf mit einem staub- und rauchverschmutzten Verband umwickelt, richtete einen neuen Patronengurt her. Nummer eins aber kaute mit entblößtem weißem Gebiss ein Stück Wurst und machte sich fertig, in einer halben Minute wieder zu schießen.
Der Kompaniechef, ein Leutnant, trat herzu. In der Tasche seiner Feldbluse steckte eine weiße Aster.
»Bravo«, sagte Berjoskin lächelnd.
»Gut, dass ich Sie treffe, Genosse Hauptmann«, sagte der Leutnant, »wie ich Ihnen schon heute Nacht gesagt habe, greifen sie wieder das Haus ›sechs Strich eins‹ an. Punkt neun haben sie angefangen.« Er schaute auf die Uhr.
»Hier steht der Regimentskommandeur. Erstatten Sie ihm Meldung.«
»Verzeihung, ich hatte Sie nicht erkannt.« Rasch salutierte der Leutnant.
Vor sechs Tagen hatte der Gegner im Bereich des Regiments einige Häuser zerstört und ging nun mit deutscher Gründlichkeit daran, sie dem Erdboden gleichzumachen. Die sowjetische Verteidigungsstellung erlosch unter den Ruinen, erlosch mit dem Leben der sich verteidigenden Rotarmisten. Doch in einem Werksgebäude mit tiefen Kellerräumen konnte sich die sowjetische Verteidigung weiter halten. Die starken Mauern hielten Schläge aus, obwohl sie an vielen Stellen durchschossen und unter Mineneinwirkung abgebröckelt waren. Die Deutschen versuchten, das Gebäude von der Luft aus zu zerstören, dreimal hatten Torpedobomber Zerstörertorpedos darauf abgeworfen. Der ganze Ecktrakt des Hauses war eingestürzt. Doch der Keller unter den Trümmern war heil geblieben, und seine Verteidiger stellten nach der Sichtung der verbliebenen Waffen Maschinengewehre, ein Leichtgeschütz und Granatwerfer auf und ließen die Deutschen nicht heran. Dieses Haus hatte eine glückliche Lage – die Deutschen konnten sich ihm nur ungedeckt nähern.
Der Kompaniechef meldete Berjoskin:
»In der Nacht haben wir versucht, uns zu ihnen durchzuarbeiten – es ist uns nicht gelungen. Einer ist gefallen, und zwei sind verwundet zurückgekommen.«
»Deckung!«, schrie in diesem Moment der Späher mit furchterregender Stimme, und einige Männer warfen sich platt auf die Erde; der Kompaniechef sprach nicht zu Ende, streckte die Arme vor, als wolle er ins Wasser springen, und ließ sich auf den Boden plumpsen.
Das Heulen schwoll durchdringend an und verwandelte sich plötzlich in den
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