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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Schwermut. Frühmorgens, wenn er vom warmen Bett aus draußen vor dem Fenster das kalte, nebelgraue Licht sah, verspürte er kindliche Hilflosigkeit vor der gewaltigen Kraft, die ihn niederzwang, wollte wieder unter die Decke kriechen, sich zusammenrollen, die Augen zukneifen und aufhören zu atmen.
    In der ersten Tageshälfte sehnte er sich nach Arbeit, dann zog es ihn besonders stark ins Institut. In diesen Stunden kam er sich überflüssig, dumm, unbegabt vor.
    Der Staat schien in seinem Zorn fähig zu sein, ihm nicht nur die Freiheit und Ruhe, sondern auch den Geist, das Talent, den Glauben an sich selbst zu nehmen und ihn in einen trübsinnigen, stumpfen Philister zu verwandeln.
    Vor dem Mittagessen wurde er lebhafter, lustiger. Danach überwältigte ihn sofort die Schwermut: stumpf, quälend, lähmend.
    Und wenn sich die Dämmerung herabsenkte, kam die große Angst. Jetzt fürchtete sich Viktor Pawlowitsch vor der Dunkelheit wie ein Steinzeitmensch, der im Wald von der Finsternis überrascht wird. Die Angst wurde immer stärker, drängender … Strum erinnerte sich, dachte nach. Aus der Dunkelheit vor dem Fenster schaute der brutale, unvermeidbare Untergang herein. Gleich würde ein Auto vorfahren, gleich würde es klingeln, und Stiefel würden in seinem Zimmer knirschen. Es gab kein Versteck. Und plötzlich setzte sich böse, fröhliche Gleichgültigkeit durch!
    Strum sagte zu Ljudmila: »Die adligen Widersacher unter dem Zaren hatten es gut. Wer in Ungnade gefallen war, setzte sich in seine Kutsche – und weg aus der Hauptstadt zum Landgut in Pensa. Da gab’s die Jagd, ländliche Freuden, Nachbarn, den Park, das Memoirenschreiben. Versucht ihr das mal, meine Herren Voltairianer – eine Abfindung für zwei Wochen und eine Beurteilung in einem geschlossenen Umschlag, die einem nicht mal eine Straßenfegerstelle einbringt.«
    »Vitja«, sagte Ljudmila Nikolajewna, »wir schaffen es! Ich werde nähen, Hausarbeit annehmen, Kopftücher färben oder ins Labor gehen. Ich ernähre dich schon.«
    Er küsste ihr die Hände, und sie verstand nicht, warum sein Gesicht einen leidenden, schuldbewussten Ausdruck bekam, warum sie seine Augen so kläglich und flehend anblickten.
    Viktor Pawlowitsch schritt im Zimmer auf und ab und sang halblaut eine alte Romanze: »… vergessen, liegt er nun allein …«
    Als Nadja von seinem Wunsch erfuhr, sich freiwillig an die Front zu melden, sagte sie: »Bei uns ist ein Mädchen, Tanja Kogan – ihr Vater hat sich freiwillig gemeldet. Er ist Fachmann für irgendwelche altgriechischen Wissenschaften und kam in ein Reserveregiment bei Pensa. Dort wurde er gezwungen, die Latrinen zu reinigen, zu fegen. Einmal kam der Kompanieführer dorthin, und Kogan, kurzsichtig, wie er war, fegte den Dreck auf den Vorgesetzten. Der schlug ihm mit der Faust so aufs Ohr, dass dem Armen das Trommelfell platzte.«
    »Na gut«, sagte Strum. »Ich werde den Dreck nicht auf den Kompanieführer fegen.«
    Strum sprach jetzt mit Nadja wie mit einer Erwachsenen. Das Verhältnis zu seiner Tochter war wohl nie besser gewesen als jetzt. Ihn rührte, dass sie in der letzten Zeit sofort nach der Schule nach Hause kam, er glaubte, sie wolle ihn nicht beunruhigen. Und in ihre spöttischen Augen trat ein neuer Ausdruck von Ernst und Zärtlichkeit, wenn sie mit dem Vater redete.
    Eines Abends zog er seinen Mantel an und ging in Richtung Institut, er wollte gerne einmal durch die Fenster in sein Labor hineinschauen und nachsehen, ob es hell war und die zweite Schicht arbeitete. Vielleicht war Markow schon mit der Montage der Anlage fertig. Aber er kam nicht bis zum Institut, er hatte doch Angst, Bekannten zu begegnen, bog in eine Gasse ein und kehrte zurück. Die Gasse war leer und dunkel. Und plötzlich überwältigte Strum ein Glücksgefühl. Der Schnee, der nächtliche Himmel, die frische, frostige Luft, das Geräusch seiner Schritte, die Bäume mit ihren schwarzen Ästen, der schmale Lichtstreif, der durch den Verdunklungsvorhang am Fenster eines kleinen Holzhauses drang – alles war wunderschön. Er atmete die Nachtluft ein, ging durch die stille Gasse, niemand beobachtete ihn. Er lebte, er war frei. Was brauchte er denn sonst noch, wovon sollte er denn noch träumen? Viktor Pawlowitsch näherte sich seinem Haus, und das Glücksgefühl verließ ihn.
    In den ersten Tagen hatte er gespannt auf das Erscheinen von Marja Iwanowna gewartet, war bei jedem Telefonanruf zusammengezuckt. Die Tage vergingen, Marja Iwanowna

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