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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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sah, wirtschaftlich und technisch detailliert begründet, die Ausnutzung der riesigen Häftlingsmassen für den Bau von Straßen, Dämmen, Wasserkraftwerken und Stauseen vor.
    Der inhaftierte NEP-Mann wurde Generalleutnant im Staatssicherheitsministerium, der Hausherr würdigte seine Idee.
    Der alten Zwangsarbeit aus der Zarenzeit, der primitiven Arbeit mit Spaten, Spitzhacke, Beil und Säge, bemächtigte sich das zwanzigste Jahrhundert.
    Die Welt der Lager nahm den Fortschritt in sich auf – Elektrolokomotiven, Rolltreppen, Bulldozer, Elektrosägen, Turbinen, Schrämmaschinen, riesige Fuhrparks. Die Lagerwelt eignete sich Transport- und Verbindungsflugzeuge an, Funkgeräte und Selbstwähltelefone, automatische Drehbänke, modernste Maschinen zur Erzanreicherung; die Lagerwelt entwarf, plante und zeichnete, sie brachte Bergwerke, Fabriken, neue Meere und gigantische Kraftwerke hervor.
    Sie entwickelte sich unaufhaltsam, und die alte Zwangsarbeit nahm sich neben ihr komisch und rührend aus, wie das Spiel mit Bauklötzen.
    Doch das Lager, sagte Katzenellenbogen, schöpfte das ihm zur Verfügung stehende Reservoir immer noch nicht optimal aus. Wie früher wurden viele Gelehrte und Spezialisten nicht eingesetzt – sie waren keine Techniker, keine Ärzte …
    Für Historiker mit weltbekannten Namen, für Mathematiker, Astronomen, Literaturwissenschaftler, Geografen, Kunstkenner, für Gelehrte, die sich mit Sanskrit und altkeltischen Mundarten beschäftigt hatten, gab es im System des Gulag keine Verwendung. Das Lager war in seiner Entwicklung noch nicht so weit, um diesen Menschen Arbeit zu geben, bei der sie ihr Fachwissen hätten einsetzen können. Sie arbeiteten als Hilfsarbeiter oder als »Aufsteiger« auf kleinen Büroposten und in den Lagerabteilungen für Kultur und Erziehung, oder sie hingen in den Invalidenlagern herum, wo es für ihre zum Teil gewaltigen Kenntnisse, die nicht nur für ganz Russland, sondern für die Welt von Bedeutung waren, keine Verwendung gab.
    Krymow hörte Katzenellenbogen zu, es war, als spreche ein Wissenschaftler über sein Lebenswerk. Er besang und rühmte nicht nur. Er war auch ein Forscher, er verglich, er deckte Mängel und Widersprüche auf, suchte Gemeinsamkeiten und Gegensätze.
    Mängel, natürlich in unvergleichlich abgeschwächter Form, existierten auch jenseits des Lagerzauns. Es gebe im Leben nicht wenige Menschen, die nicht das machten, was sie könnten, und wenn, dann nicht so, wie sie es könnten – an Universitäten und in Redaktionen, in den Forschungsinstituten der Akademie.
    In den Lagern, sagte Katzenellenbogen, herrschten die kriminellen über die politischen Häftlinge. Die hemmungslosen, ungebildeten, faulen und käuflichen, zu blutigen Schlägereien und Raubüberfällen neigenden Kriminellen bremsten die arbeitstechnische und kulturelle Entwicklung der Lager.
    Er sagte, auch diesseits des Zauns werde die Arbeit der Gelehrten und größten Kulturschaffenden oft von wenig gebildeten, rückständigen, beschränkten Leuten geleitet.
    Das Lager bot gewissermaßen ein hyperbolisches, vergrößertes Abbild des Lebens außerhalb des Stacheldrahtes. Aber die Wirklichkeit auf beiden Seiten des Zauns widersprach sich nicht, sondern entsprach dem Gesetz der Symmetrie.
    Nun sprach er nicht mehr wie ein Sänger, nicht wie ein Denker, sondern wie ein Prophet.
    Wenn man das System der Lager mutig und konsequent weiterentwickelte, während man es zugleich von Hemmnissen und Mängeln befreite, würde diese Entwicklung zur Verwischung der Grenzen führen. Das Lagerleben würde irgendwann mit dem Leben jenseits des Stacheldrahtes verschmelzen. In dieser Verschmelzung, in der Aufhebung des Gegensatzes zwischen dem Lager und dem Leben jenseits des Lagerzauns, liege zugleich die Reife, der Triumph der Grundprinzipien. Bei allen Mängeln habe das Lagersystem doch einen entscheidenden Vorzug. Nur im Lager stehe dem Prinzip der persönlichen Freiheit in absolut reiner Form das allerhöchste Prinzip gegenüber – die Vernunft.
    Dieses Prinzip könne das Lager in eine Höhe führen, die es ihm erlaubte, sich selbst abzuschaffen, um mit dem Leben des Dorfes und der Stadt eins zu werden.
    Katzenellenbogen hatte mehrfach Lagerkonstruktionsbüros geleitet, und er war davon überzeugt, dass die Wissenschaftler und Ingenieure gerade unter Lagerbedingungen die schwierigsten Aufgaben zu lösen vermochten. Sie waren jedem Problem der Wissenschaft der Welt und der technischen Fantasie gewachsen.

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