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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Gebietskomitees abwarten. Am 4. April sprach ihm dieses eine strenge Rüge wegen eigenmächtigen Verlassens des Kraftwerks in schwerer Lage aus. Auch diese Entscheidung war tragbar, sie hätten ihn auch aus der Partei ausschließen können. Aber der Spruch des Gebietskomitees erschien Stepan Fjodorowitsch ungerecht – schließlich wussten die Genossen im Gebietskomitee, dass er das Kraftwerk bis zum letzten Tag der Verteidigung von Stalingrad geleitet hatte und erst an jenem Tag auf das linke Ufer übergewechselt war, als der sowjetische Angriff begonnen hatte, dass er gegangen war, um seine Tochter zu besuchen, die im Laderaum eines Frachtkahns ein Kind zur Welt gebracht hatte. Auf der Sitzung des Büros hatte er versucht zu widersprechen, aber Prjachin war hart gewesen und hatte gesagt: »Sie können gegen die Entscheidung des Büros Beschwerde bei der Zentralen Kontrollkommission einlegen, ich glaube, der Genosse Schkirjatow hält unsere Entscheidung für halbherzig und weich.«
    Stepan Fjodorowitsch sagte: »Ich bin überzeugt, dass die ZKK die Entscheidung rückgängig macht.« Da er jedoch von Schkirjatow viel gehört hatte, sah er von einer Revision lieber ab.
    Er fürchtete und vermutete, dass Prjachins Härte nicht nur mit der »Stalgres«-Angelegenheit zusammenhing. Prjachin erinnerte sich natürlich an die verwandtschaftlichen Beziehungen Stepan Fjodorowitschs zu Jewgenia Nikolajewna Schaposchnikowa und zu Krymow; Spiridonow war ihm unangenehm, denn schließlich wusste er, dass Prjachin und der verhaftete Krymow alte Bekannte waren.
    In dieser Situation konnte Prjachin, selbst wenn er es gewollt hätte, auf keinen Fall Spiridonow unterstützen. Wenn er das täte, würden Neider, die es immer im Umkreis starker Männer gibt, sofort an die entsprechende Stelle melden, Prjachin unterstütze aus Sympathie für den Volksfeind Krymow dessen Verwandten, den Egoisten Spiridonow.
    Aber Prjachin unterstützte Spiridonow offensichtlich nicht nur nicht, weil er es nicht konnte, sondern auch, weil er es nicht wollte. Prjachin schien darüber informiert zu sein, dass Krymows Schwiegermutter ins »Stalgres« gekommen war und bei Spiridonow wohnte. Wahrscheinlich wusste Prjachin auch, dass Jewgenia Nikolajewna im Briefverkehr mit ihrer Mutter stand und ihr vor kurzem eine Kopie ihres Gesuchs an Stalin geschickt hatte.
    Der Leiter der Gebietsabteilung des Staatssicherheitsministeriums, Woronin, traf Spiridonow nach der Sitzung in der Kantine, wo Stepan Fjodorowitsch Quark und Wurst einkaufte; er sah ihn spöttisch an und sagte: »Spiridonow ist der geborene Wirtschaftsfunktionär; eben erst hat er eine strenge Rüge bekommen, und schon befasst er sich mit Lebensmittelbeschaffung.«
    »Hilft nichts, die Familie, ich bin jetzt Großvater geworden«, sagte Stepan Fjodorowitsch mit einem kläglichen, schuldbewussten Lächeln.
    Woronin lächelte ihn ebenfalls an: »Ich dachte, du stellst ein Paket fürs Gefängnis zusammen.«
    Nach diesen Worten dachte Spiridonow: »Gut, dass sie mich in den Ural jagen, sonst würde ich hier noch ganz vor die Hunde gehen. Wohin nur mit Vera und dem Kleinen?«
    Er fuhr im Führerhaus eines Anderthalbtonners zum »Stalgres« und betrachtete durch die schmutzigen Scheiben die zerstörte Stadt, von der er sich bald trennen würde. Stepan Fjodorowitsch dachte daran, dass seine Frau auf diesem jetzt von Ziegelschutt bedeckten Bürgersteig vor dem Krieg zur Arbeit gegangen war, dass er nicht mehr hier im »Stalgres« sein würde, wenn das neue Kabel aus Swerdlowsk einträfe, dass sein kleiner Enkel wegen Unterernährung Pickel an den Armen und auf der Brust hatte. »Streng sind sie wirklich, warum eigentlich?«, dachte er, und dann fiel ihm ein, dass er die Medaille »Für die Verteidigung von Stalingrad« nicht erhalten würde, und aus irgendeinem Grund regte ihn der Gedanke an die Medaille mehr auf als die bevorstehende Trennung von der Stadt, mit der ihn sein Leben, seine Arbeit und seine Tränen um Marussja verbanden. Er fluchte sogar laut und grob aus Verdruss darüber, dass er die Medaille nicht bekommen würde, und der Fahrer fragte ihn: »Auf wen schimpfen Sie, Stepan Fjodorowitsch? Haben Sie im Gebietskomitee etwas vergessen?«
    »Vergessen, vergessen«, sagte Stepan Fjodorowitsch, »er hat mich nicht vergessen.«
    In der Wohnung der Spiridonows war es kalt und feucht. Die ausgeschlagenen Fensterscheiben waren durch Sperrholzplatten und Bretter ersetzt, der Putz fiel in den Zimmern an vielen

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