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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Man musste die Menschen nur mit Verstand anleiten und ihnen gute Lebensbedingungen schaffen. Die alte Redensart, ohne Freiheit gebe es keine Wissenschaft, sei schlichtweg falsch.
    »Wenn sich die Niveaus einander angleichen«, sagte er, »werden wir ein Gleichheitszeichen machen zwischen dem Leben, das jenseits, und dem, das diesseits des Stacheldrahts abläuft. Repressionen werden unnötig, wir werden aufhören, Haftbefehle auszustellen. Wir reißen die Gefängnisse nieder. Die Abteilung für Kultur und Erziehung wird mit jeder Anomalie fertig werden. Mohammed und der Berg werden einander entgegengehen.
    Die Abschaffung des Lagers wird ein Triumph des Humanismus sein, und zugleich wird das chaotische, urzeitliche Höhlenprinzip der persönlichen Freiheit nicht siegen, danach nicht wieder aufleben. Im Gegenteil, es wird vollständig überwunden sein.«
    Nach langem Schweigen sagte er, dass vielleicht nach Jahrhunderten auch dieses System sich selbst abschaffen und in seiner Selbstauflösung die Demokratie und die persönliche Freiheit hervorbringen würde.
    »Nichts ist ewig unter dem Mond«, sagte er, »aber ich würde nicht gern in dieser Zeit leben.«
    Krymow sagte ihm: »Ihre Gedanken sind irrsinnig. Nicht darin liegt die Seele und das Herz der Revolution. Es heißt, dass Psychiater, die lange in psychiatrischen Kliniken gearbeitet haben, selbst verrückt werden. Entschuldigen Sie, aber Sie sind ja auch nicht grundlos eingesperrt worden. Sie, Genosse Katzenellenbogen, verleihen den Sicherheitsorganen die Attribute einer Gottheit. Es war wirklich Zeit, Sie abzulösen.«
    Katzenellenbogen nickte gutmütig: »Ja, ich glaube an Gott. Ich bin ein ungebildeter, gläubiger alter Mann. Jede Epoche schafft sich eine Gottheit nach ihrem eigenen Bild. Die Sicherheitsorgane sind vernünftig und mächtig, sie herrschen über den Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts. Einst zeigte sich diese Kraft, die der Mensch vergötterte, in Erdbeben, Blitz und Donner und Waldbränden. Aber nicht nur ich bin eingesperrt worden, sondern Sie sind es auch. Für Sie ist es auch Zeit, abgelöst zu werden. Irgendwann wird sich klären, wer recht hat – Sie oder ich.«
    »Und der alte Dreling fährt jetzt nach Hause, zurück ins Lager«, sagte Krymow, der wusste, dass seine Worte nicht ohne Wirkung bleiben würden.
    Und wirklich sagte Katzenellenbogen: »Dieser elende Greis stört meinen Glauben.«
    58
    Krymow vernahm die leisen Worte: »Vor kurzem wurde gemeldet, unsere Truppen hätten die Stalingrader Heeresgruppe der Deutschen vernichtet, angeblich ist Paulus gefangen, aber, ehrlich gesagt, habe ich es nicht richtig verstanden.«
    Krymow schrie auf, begann um sich zu schlagen, mit den Füßen auf dem Boden zu scharren; er wollte sich unter die Menschenmassen in Wattejacken und Filzstiefeln mischen … der Lärm ihrer vertrauten Stimmen übertönte das leise neben ihm geführte Gespräch – über die Stalingrader Schutthaufen kam Grekow mit wiegenden Schritten auf ihn zu.
    Der Arzt hielt Krymow am Arm fest und sagte: »Wir müssten ein Päuschen machen … noch einmal Kampfer, der Puls setzt bei jedem vierten Schlag aus.«
    Krymow schluckte einen salzigen Klumpen hinunter und sagte: »Macht nichts, fahren Sie fort, die Medizin erlaubt es, ich unterschreibe trotzdem nicht.«
    »Du wirst unterschreiben, wirst schon noch unterschreiben«, sagte der Untersuchungsrichter mit der gutmütigen Überzeugtheit eines Werkmeisters. »Da haben schon ganz andere unterschrieben.«
    Nach drei Tagen endete das zweite Verhör, und Krymow wurde in die Zelle zurückgebracht.
    Der Diensthabende legte ein in einen weißen Lappen eingewickeltes Paket neben ihn.
    »Unterschreiben Sie, Bürger Häftling, dass Sie das Paket erhalten haben«, sagte er.
    Nikolai Grigorjewitsch las die von einer bekannten Hand geschriebene Liste durch – Zwiebeln, Knoblauch, Zucker, Zwieback. Darunter stand: »Deine Genia«.
    O Gott. Mein Gott, er weinte …
    59
    Am 1. April 1943 erhielt Stepan Fjodorowitsch Spiridonow einen Auszug aus dem Beschluss des Volkskommissariats für die Kraftwerke der UdSSR; man ordnete an, er solle seinen Posten bei »Stalgres« aufgeben und in den Ural fahren, um dort Direktor eines kleinen, mit Torf arbeitenden Kraftwerks zu werden. Die Strafe war nicht allzu schwer, schließlich hätte er auch vor Gericht gestellt werden können. Zu Hause sagte Spiridonow nichts von dem Befehl des Volkskommissariats, er wollte die Entscheidung des Büros des

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