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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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legte sich hin, und Mitja begann zu weinen. Sie stand auf, fütterte ihn, wickelte ihn und trug ihn im Zimmer umher. Eine Stunde nachdem sie ihn beruhigt hatte, begann er wieder zu weinen. Im Morgengrauen wurde er wieder wach und wollte nicht mehr einschlafen – für sie brach im Halbdunkel ein neuer Tag an. Unausgeschlafen ging sie mit schwerem Kopf in die Küche, um Brennholz zu holen, heizte den Ofen, setzte Wasser auf – Tee für Vater und Großmutter –, wusch die Windeln. Aber seltsamerweise war sie jetzt nie mehr gereizt, sondern ertrug alles sanft und geduldig.
    Veras Leben wurde leichter, als Natalja aus Leninsk gekommen war.
    Gleich nach Nataljas Ankunft fuhr Andrejew für mehrere Tage in den nördlichen Teil von Stalingrad, in die Werkssiedlung. Vielleicht wollte er sich sein Haus und das Werk ansehen, oder er war böse auf seine Schwiegertochter, die ihren Sohn in Leninsk zurückgelassen hatte, vielleicht wollte er nicht, dass sie das Brot der Spiridonows aß – jedenfalls fuhr er weg und ließ ihr seine Lebensmittelkarte da.
    Natalja stürzte sich sofort in die Arbeit und half Vera. Wie leicht und schwungvoll sie arbeiten konnte, wie leicht die schweren Eimer, der volle Waschkessel und der Kohlensack wurden, wie leicht alles wurde, was ihre kräftigen, jungen Arme und Hände anpackten.
    Jetzt ging Vera mit Mitja manchmal für eine halbe Stunde spazieren, setzte sich auf einen Stein, schaute, wie das Frühlingswasser glitzerte, wie die Dunstschwaden über der Steppe aufstiegen.
    Rundum war alles still, der Krieg hatte sich Hunderte von Kilometern von Stalingrad entfernt, doch mit der Stille war keine Ruhe eingekehrt, sondern Schwermut, und es schien, als wäre alles leichter gewesen, damals, als deutsche Flugzeuge in der Luft gedröhnt und Granaten geheult hatten, als das Leben voll Feuer, Furcht und Hoffnung gewesen war.
    Vera betrachtete das von Eiterpickeln übersäte Gesicht ihres Sohnes, und Mitleid packte sie. Zugleich tat ihr auch Viktorow leid – der arme Wanja, was für ein schmächtiges, dürres, weinerliches Söhnchen hatte er.
    Dann ging sie über die von Müll und Ziegelbrocken bedeckten Stufen zurück in den zweiten Stock, machte sich an die Arbeit, und alle Schwermut ging in dieser ständigen Hast unter, im Waschwasser, in der Ofenhitze, in der Feuchtigkeit der Wände.
    Die Großmutter rief sie zu sich, streichelte ihr übers Haar, und in Alexandra Wladimirownas Augen, die stets ruhig und klar waren, trat ein unerträglich trauriger, zärtlicher Ausdruck.
    Mit niemandem sprach Vera über Viktorow – weder mit dem Vater noch mit der Großmutter, nicht einmal mit dem fünf Monate alten Sohn.
    Nach Nataljas Ankunft veränderte sich alles in der Wohnung. Natalja kratzte den Schimmel von den Wänden, tünchte die dunklen Ecken weiß, scheuerte den Parkettboden, in den sich der Schmutz für immer eingefressen zu haben schien. Sie machte die große Wäsche, die Vera auf die warmen Tage verschoben hatte. Das Treppenhaus säuberte sie Stockwerk für Stockwerk von Schutt und Abfall.
    Einen halben Tag lang beschäftigte sie sich allein mit dem langen, an eine schwarze Schlange erinnernden Ofenrohr – es hing durch, aus den Schweißnähten tropfte pechschwarze Flüssigkeit und sammelte sich in kleinen Pfützen auf dem Fußboden. Natalja kalkte das Rohr, bog es gerade, umwickelte es mit Draht und hängte an den Schweißstellen leere Konservendosen auf, in die das Pech hineintropfte.
    Vom ersten Tag an hatte sie Freundschaft mit Alexandra Wladimirowna geschlossen, obwohl man hätte meinen können, dass eine Schaposchnikowa an dieser lauten, frechen Person, die gern über Weiber und Männer tratschte, kaum Gefallen finden würde. Natalja hatte sofort viele Bekannte: den Elektriker und den Mechaniker aus der Turbinenhalle und die Lastwagenfahrer.
    Eines Tages sagte Alexandra Wladimirowna zu Natalja, die nach langem Schlangestehen von den Geschäften zurückgekommen war:
    »Natalja, ein Mann hat nach Ihnen gefragt, ein Soldat.«
    »Sicher ein Georgier«, sagte Natalja. »Wenn er noch mal kommt, jagen Sie ihn weg. Der will mich heiraten, die Krummnase.«
    »So plötzlich?«, wunderte sich Alexandra Wladimirowna.
    »Die fackeln nicht lange! Er will, dass ich nach dem Krieg mit ihm nach Georgien gehe. Habe ich etwa für den die Treppe geputzt?«
    Am Abend sagte sie zu Vera: »Los, fahren wir in die Stadt, da wird ein Film gezeigt. Mischka, der Lkw-Fahrer, bringt uns hin. Du setzt dich mit dem Kind ins

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