Leben und Schicksal
Glinkas »Zweifel«. Und wie wenig bewunderte er Dante; dem fehlte für seine Begriffe die Göttlichkeit der russischen Musik und der russischen Poesie.
Krymow aber machte keinen Unterschied zwischen Dobroljubow und Lassalle, Tschernyschewski und Engels. Für ihn stand Marx über allen russischen Genies, triumphierte die »Eroica« Beethovens uneingeschränkt über die ganze russische Musik. Nur Nekrassow stellte für ihn wohl eine Ausnahme dar; ihn hielt er für den besten Dichter der Welt.
In manchen Augenblicken hatte Jewgenia Nikolajewna das Gefühl, dass Schargorodski ihr sogar helfe, nicht nur den Menschen Krymow, sondern auch ihre Beziehung zu ihm besser zu verstehen.
Genia unterhielt sich gerne mit Schargorodski. Gewöhnlich begann das Gespräch mit alarmierenden Nachrichten, dann ließ Schargorodski seinen Überlegungen über Russlands Schicksal freien Lauf.
»Der russische Adel, Jewgenia Nikolajewna«, sagte er, »trug Russland gegenüber Schuld, doch galt dem Land seine ganze Liebe. In jenem ersten Krieg haben sie uns nichts verziehen, alle und alles haben sie uns vorgehalten – unsere Dummköpfe und Blödiane und verschlafenen Fresssäcke und Rasputin und die Lindenalleen auf unseren Gütern und unsere Sorglosigkeit, ihre ärmlichen Hütten und die armseligen Bastschuhe … Sechs Söhne meiner Schwester kamen in Galizien um. In Ostpreußen fiel mein Bruder, ein alter, kranker Mann, im Kampf. Die Geschichte hat ihnen das nicht gedankt … Aber sie sollte es.«
Oft lauschte Genia seinen überhaupt nicht mit den gegenwärtigen Meinungen übereinstimmenden Ausführungen über Literatur. Fet stellte er über Puschkin und Tjutschew. Fet kannte er natürlich wie kein anderer in ganz Russland, ja, wahrscheinlich konnte sich Fet selbst gegen Ende seines Lebens nicht mehr an all das erinnern, was Wladimir Andrejewitsch über ihn wusste.
Lew Tolstoi hielt er für zu realistisch und schätzte ihn nicht, obgleich er ihm Poesie zugestand. Turgenjew schätzte er, doch hielt er sein Talent für nicht tiefgründig genug. Aus der russischen Prosa las er am liebsten Gogol und Leskow. Er glaubte, dass die ersten Totengräber der russischen Poesie Belinski und Tschernyschewski gewesen seien.
Genia sagte er, dass er außer der russischen Poesie drei Dinge liebe, die alle mit dem Buchstaben »S« anfingen – Süßes, Sonne und Schlaf.
»Ob ich wohl sterben werde, ohne eines meiner Gedichte gedruckt gesehen zu haben?«, fragte er.
Einmal, als sie auf dem Nachhauseweg vom Dienst war, hatte Jewgenia Nikolajewna Limonow getroffen. Er ging, gestützt auf einen knorrigen Stock, im offenen Wintermantel die Straße entlang; ein grell kariertes Halstuch flatterte um seinen Hals. Seltsam wirkte dieser massige Mann mit der Bojarenmütze aus Biberfell inmitten der Kuibyschewer Menschenmenge.
Limonow begleitete Genia nach Hause. Sie lud ihn ein, hereinzukommen und mit ihr Tee zu trinken. Er sah sie aufmerksam an und sagte: »Na ja, danke schön, eigentlich müssten Sie ja eine Flasche Wodka für die Anmeldebescheinigung spendieren.« Schwer atmend machte er sich daran, die Treppe hinaufzusteigen.
Limonow trat in Genias kleines Zimmer ein und meinte: »Ja-a, meiner Wampe wird es hier eng werden, aber vielleicht können sich meine Gedanken hier frei bewegen.«
Auf einmal redete er mit leicht unnatürlicher Stimme und fing an, ihr seine Theorie über die Liebe und über Liebesbeziehungen zu erläutern.
»Vitaminmangel, geistig-seelischer Vitaminmangel!« Er sprach kurzatmig. »Verstehen Sie, das ist ein so gewaltiger Hunger wie bei den Stieren, Kühen und Hirschen, die gierig auf Salz sind. Das, was ich nicht in mir habe, was ich nicht in meinen Angehörigen, in meiner Frau finde, das suche ich im Gegenstand meiner Liebe. Die Ehefrau ist die Ursache für den Vitaminmangel! Und der Mann giert danach, in seiner Geliebten das zu finden, was er seit Jahren, Jahrzehnten in seiner Frau nicht finden konnte. Leuchtet Ihnen das ein?«
Er nahm ihre Hand und begann sie innen zu streicheln, dann streichelte er ihre Schulter, berührte ihren Hals, ihren Nacken.
»Verstehen Sie mich?«, fragte er einschmeichelnd. »Das ist doch ganz einfach. Ein seelischer Vitaminmangel!«
Genia folgte mit belustigtem und verlegenem Blick der großen weißen Hand mit den polierten Fingernägeln, die sich von ihrer Schulter auf die Brust heruntertastete, und sagte:
»Anscheinend pflegt der Vitaminmangel nicht nur seelisch zu sein, sondern auch
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