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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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körperlich.« Und im belehrenden Ton einer Volksschullehrerin fügte sie hinzu: »Betätscheln sollte man mich nicht, wirklich nicht.«
    Er sah sie verdutzt an und brach, anstatt in Verlegenheit zu geraten, in schallendes Gelächter aus. Sie stimmte in sein Gelächter ein.
    Sie tranken Tee und unterhielten sich über den Maler Sarjan. Der alte Schargorodski klopfte an die Tür.
    Es zeigte sich, dass Limonow Schargorodskis Namen aus irgendwelchen handschriftlichen Aufzeichnungen und archivierten Briefen kannte. Schargorodski hatte Limonows Bücher nicht gelesen, jedoch seinen Namen gehört. Er wurde für gewöhnlich in den Zeitungen in jenen Listen von Autoren aufgeführt, die über militärgeschichtliche Themen schrieben.
    Sie redeten und ereiferten sich und freuten sich über das Gefühl, etwas gemeinsam zu haben. In ihrer Unterhaltung fielen die Namen Solowjow, Mereschkowski, Rosanow, Bely, Berdjajew, Ustrjalow, Balmont, Miljukow, Jewreinow, Remisow, Wjatscheslaw Iwanow.
    Genia dachte plötzlich, es sei, als würden diese beiden Männer vom Meeresgrund eine ganze versunkene Welt von Büchern, Bildern, philosophischen Systemen und Theaterinszenierungen heraufholen.
    Da wiederholte Limonow auch schon laut ihren Gedanken: »Wir haben gewissermaßen miteinander Atlantis aus dem Ozean gehoben.«
    Schargorodski nickte schwermütig: »Ja, ja, aber Sie sind nur der Erforscher des russischen Atlantis, ich aber bin selbst einer aus Atlantis. Ich bin mitsamt der Stadt auf den Meeresgrund gesunken.«
    »Und wennschon«, sagte Limonow, »der Krieg hat manchen aus Atlantis an die Oberfläche geholt.«
    »Ja, offenbar ist den Gründern der Komintern in der Stunde des Krieges nichts Besseres als eine Wiederholung eingefallen: Sie bemühen die heilige russische Erde«, pflichtete Schargorodski bei.
    Er lächelte.
    »Warten Sie ab. Der Krieg wird mit dem Sieg enden, und dann werden die Internationalisten verkünden: ›Unser Mütterchen Russland wird an der Spitze der ganzen Welt stehen.‹«
    Seltsam war das: Jewgenia Nikolajewna spürte, dass sie sich nicht nur deshalb so angeregt und geistreich unterhielten, weil sie sich getroffen und ein ihnen beiden vertrautes Thema gefunden hatten. Sie verstand, dass beide Männer – der ganz alte und der schon sehr betagte – die ganze Zeit über spürten, dass sie ihnen zuhörte, und merkte, dass sie ihnen gefiel. Wie merkwürdig war das doch. Und sonderbar fand sie es auch, dass ihr das völlig gleichgültig blieb, ja, sie sogar belustigte, und ihr doch gleichzeitig angenehm war.
    Genia betrachtete die beiden und dachte: »Es ist doch unmöglich, sich selbst zu begreifen … Warum tut mir die Erinnerung an mein früheres Leben so weh, warum tut Krymow mir so leid, warum denke ich unaufhörlich an ihn?«
    Und sie, die damals mit Krymows deutschen und englischen Komintern-Freunden gar nichts hatte anfangen können, hörte jetzt Schargorodski mit Trauer und Feindseligkeit zu, als er sich Ironisch über die Komintern-Leute ausließ. Hier half auch Limonows Theorie vom Vitaminmangel nicht, um sich Klarheit zu verschaffen. Für diese Dinge gab es keine Theorie.
    Auf einmal schien es ihr, als dächte sie die ganze Zeit nur deshalb mit so großer Unruhe an Krymow, weil sie sich nach einem anderen Mann sehnte, an den sie anscheinend überhaupt nicht dachte.
    »Liebe ich ihn denn wirklich?«, fragte sie sich verwundert.
    26
    Nachts klarte der Himmel über der Wolga auf und wurde wolkenlos. Langsam zogen unter den Sternen die Hügel vorbei, auseinandergehackt durch das Dunkel der Schluchten. Manchmal schossen Sternschnuppen über den Himmel, und Ljudmila Nikolajewna flüsterte tonlos: »Wenn nur Tolja am Leben bleibt!« Das war ihr einziger Wunsch, mehr verlangte sie nicht vom Himmel.
    Eine Zeitlang, noch während des Studiums an der naturwissenschaftlich-mathematischen Fakultät, hatte sie im Institut für Astronomie am Rechner gearbeitet. Damals hatte sie erfahren, dass Meteore sich in Strömen bewegen, die die Erde in verschiedenen Monaten erreichen – die Perseiden, Orioniden und wohl auch noch die Geminiden und Leoniden. Sie hatte längst vergessen, welcher Meteorstrom die Erde im Oktober und im November erreichte … Doch wenn nur Tolja am Leben bliebe!
    Viktor hatte ihr vorgeworfen, dass sie anderen Menschen nicht gern helfe und ihre Angehörigen nicht liebe. Er meinte, wenn Ljudmila es nur gewollt hätte, dann hätte Anna Semjonowna bei ihnen gewohnt und wäre nicht in der Ukraine

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