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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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geblieben.
    Als Viktors Vetter aus dem Lager entlassen und in die Verbannung geschickt wurde, wollte sie ihn nicht bei sich übernachten lassen. Sie hatte Angst, dass die Hausverwaltung davon erfahren könnte. Sie wusste auch, ihre Mutter würde niemals vergessen, dass sie sich damals, als ihr Vater im Sterben lag, geweigert hatte, ihren Urlaub an der Schwarzmeerküste zu unterbrechen, und erst zwei Tage nach der Beerdigung nach Moskau zurückgekehrt war.
    Manchmal sprach die Mutter mit ihr über ihren Bruder Dmitri und entsetzte sich über das, was ihm zugestoßen war: »Er war ein aufrichtiger kleiner Junge und ist es sein ganzes Leben lang geblieben. Und dann auf einmal – Spionage, Vorbereitung des Mordes an Kaganowitsch und Woroschilow. Wozu diese unverschämte, schreckliche Lüge? Wer hat es nötig, aufrechte und ehrliche Menschen zugrunde zu richten?«
    Einmal hatte sie der Mutter erwidert: »Du kannst dich nicht völlig für Mitja verbürgen. Unschuldige werden nicht eingesperrt.« Und jetzt kam ihr die Erinnerung an den Blick, mit dem die Mutter sie angesehen hatte.
    Und einmal hatte sie zu ihrer Mutter gesagt: »Ich habe Dmitris Frau nie leiden können, ich weiß wirklich nicht, warum ich mich heute anders verhalten sollte.«
    Jetzt fiel ihr die Antwort ihrer Mutter ein: »Aber begreifst du denn, was das alles bedeutet, eine Frau zehn Jahre lang einzusperren, nur weil sie ihren Mann nicht denunziert hat!«
    Dann erinnerte sie sich an den Tag, an dem sie einen Welpen nach Hause gebracht hatte, den sie auf der Straße gefunden hatte. Viktor wollte das Hündchen nicht aufnehmen, da hatte sie ihn angeschrien: »Du bist ein grausamer Mensch!« Er aber hatte ihr geantwortet: »Ach, Ljuda, ich möchte gar nicht, dass du jung und schön bist, ich möchte nur eins – dass du nicht nur für Hunde und Katzen ein gutes Herz hast.«
    Jetzt, als sie so an Deck saß, erinnerte sie sich zum ersten Mal ohne Selbstliebe, ohne den Wunsch, andern die Schuld zu geben, an die bitteren Worte, die sie in ihrem Leben zu hören bekommen hatte. Einmal hatte ihr Mann lachend am Telefon gesagt: »Seitdem wir ein Kätzchen aufgenommen haben, höre ich die zärtliche Stimme meiner Frau.«
    Die Mutter hatte einmal zu ihr gesagt: »Ljuda, wie kannst du nur den Bettlern etwas abschlagen? Bedenke doch: Ein Hungriger bittet dich, die Satte …« Sie war aber nicht geizig. Sie hatte gern Gäste, und ihre Kochkunst genoss unter ihren Bekannten hohes Ansehen.
    Niemand sah sie in der kalten Nacht an Deck sitzen und weinen. Und wennschon – so war sie eben verhärtet! Sie hatte alles vergessen, was sie gelernt hatte. Zu nichts taugte sie. Niemandem konnte sie mehr gefallen. Sie war dick geworden, hatte graues Haar und einen hohen Blutdruck. Ihr Mann liebte sie nicht, deshalb kam sie ihm herzlos vor. Doch wenn nur Tolja am Leben blieb! Sie war bereit, alles einzugestehen, alles Schlechte zu bereuen, das ihr ihre Angehörigen vorwarfen – wenn er nur am Leben blieb!
    Warum dachte sie nur immer an ihren ersten Mann? Wo war er, wie konnte sie ihn finden? Warum hatte sie nicht seiner Schwester nach Rostow geschrieben? Jetzt konnte man ihr nicht mehr schreiben – die Deutschen waren schon dort. Die Schwester hätte ihm von Tolja berichtet.
    Der Lärm der Schiffsturbine, das Zittern des Decks, die Wasserspritzer, das Flimmern der Sterne am Himmel – alles verschwamm und floss ineinander. Ljudmila Nikolajewna döste ein.
    Der Morgen nahte. Nebel wallte über der Wolga; es schien, als hätte er alles Leben verschlungen. Plötzlich stieg die Sonne auf – es war wie eine Explosion der Hoffnung! Der Himmel spiegelte sich im Wasser, das dunkle herbstliche Wasser atmete auf, es schien, als stieße die Sonne bei ihrer Berührung mit den Wellen des Flusses einen Schrei aus. Das Ufer trug die dicke Salzkruste des Nachtfrostes, die rötlichen Bäume bildeten einen fröhlichen Kontrast zu dem weißen Hintergrund. Wind kam auf, der Nebel verschwand, die Welt wurde glasklar und schneidend durchsichtig. Weder das grelle Sonnenlicht noch das Blau des Himmels und des Wassers strahlte Wärme aus.
    Die Erde war unermesslich groß, und selbst der Wald darauf grenzte den Horizont nicht ab; man konnte sehen, wo er anfing und wo er aufhörte, aber die Erde zog sich immer noch weiter hin. So unermesslich und ewig wie die Erde war ihr Leid.
    Sie sah die nach Kuibyschew in den Kabinen erster Klasse reisenden Funktionäre des Volkskommissariats in ihren tarnfarbenen

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