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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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nur ein diffuses Unbehagen nicht los. Auch hier gelang es ihm nicht, das einfache, klare, runde Gefühl seiner Jugend wiederzufinden und sich vertraut unter Vertrauten oder fremd unter Fremden zu fühlen.
    Das lag nicht daran, dass ihn ein englischer Offizier einmal gefragt hatte, ob ihn die Tatsache, dass es in Russland verboten sei, antimarxistische Ansichten zu äußern, nicht daran gehindert habe, sich mit Philosophie zu befassen.
    »Mag schon sein, dass es jemanden daran hindert. Aber mich, einen Marxisten, hindert es nicht«, hatte Michail Sidorowitsch geantwortet.
    »Ich habe Ihnen diese Frage gestellt, eben weil Sie ein alter Marxist sind«, hatte der Engländer gesagt. Und obwohl Mostowskoi bei diesen Worten schmerzlich zusammengezuckt war, hatte er dem Engländer doch Rede und Antwort gestanden.
    Es lag auch nicht daran, dass ihm Männer wie Ossipow, Guds und Jerschow manchmal zur Last fielen, obwohl sie ihm so nah wie Brüder waren. Sein Unglück war, dass ihm vieles in seiner eigenen Seele fremd geworden war. Schon in Friedenszeiten war es manchmal vorgekommen, dass er sich gefreut hatte, einen alten Freund zu treffen, doch am Ende ihrer Begegnung hatte er nur einen Fremden in ihm erblickt.
    Aber was tun, wenn das, was heute fremd war, in ihm selbst lebte, Teil seiner selbst war? Sich selbst konnte man nicht belügen, sich selbst konnte man nicht aus dem Weg gehen.
    In den Gesprächen mit Ikonnikow brauste er auf, behandelte ihn grob und spöttisch, schimpfte ihn Tölpel, Waschlappen, Schlappschwanz. Aber obwohl er sich über ihn lustig machte, bekam er doch wieder Sehnsucht nach ihm, wenn er ihn lange nicht gesehen hatte.
    Darin bestand vor allem der Unterschied zwischen den Gefängnisjahren seiner Jugend und der heutigen Zeit.
    In der Jugend, im Kreis der Freunde und Gleichgesinnten, war Alles vertraut und verständlich gewesen, jeder Gedanke und jede Ansicht des Feindes dagegen fremd und ungeheuerlich.
    Aber jetzt, auf einmal, erkannte er in den Gedanken eines Fremden das, was ihm Jahrzehnte zuvor teuer gewesen war, und das Fremde wiederum kam auf manchmal unerklärliche Weise in den Gedanken und Worten der Freunde zum Vorschein.
    »Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich schon zu lange auf der Welt bin«, dachte Mostowskoi.
    5
    Der amerikanische Hauptmann lebte in einem Einzelverschlag der Sonderbaracke. Er durfte am Abend die Baracke verlassen und bekam Sonderverpflegung. Es hieß, dass Schweden seinetwegen eine Anfrage gestellt habe – Präsident Roosevelt habe beim schwedischen König ein gutes Wort für ihn eingelegt.
    Der Hauptmann hatte dem kranken russischen Major Nikonow einmal eine Tafel Schokolade gebracht. Die russischen Kriegsgefangenen in der Sonderbaracke interessierten ihn am meisten. Er versuchte, mit den Russen ein Gespräch über die deutsche Taktik und über die Ursachen für die Misserfolge im ersten Kriegsjahr zu führen.
    Oft fing er mit Jerschow ein Gespräch an und vergaß, wenn er in seine klugen, ernsten und zugleich lachenden Augen blickte, dass der russische Major kein Englisch verstand.
    Es kam ihm merkwürdig vor, dass ein Mensch mit solch intelligentem Gesicht einfach nichts verstand, nicht einmal ein Gespräch über Themen, die sie beide stark bewegten.
    »Verstehen Sie denn wirklich kein Wort?«, fragte er bekümmert.
    Jerschow antwortete ihm auf Russisch:
    »Unser verehrter Sergeant beherrschte alle Sprachen, außer den fremden.«
    Und dennoch verständigten sich die russischen Lagerinsassen mit den Menschen der verschiedensten Nationalitäten in einer Sprache, die sich aus Lächeln, Blicken, Schulterklopfen und eineinhalb Dutzend verballhornten russischen, deutschen, englischen und französischen Wörtern zusammensetzte. Sie sprachen über Kameradschaft, Mitgefühl, Hilfe und über die Liebe zu ihrem Heim, zu Frau und Kindern.
    »Kamerad, gut, Brot, Suppe, Kinder, Zigarette, Arbeit« und dazu noch ein Dutzend Wörter, die im Lager entstanden waren: Revier, Blockältester, Kapo, Vernichtungslager, Appell, Appellplatz, Waschraum, Flugpunkt, Lagerschütze – das genügte, um etwas besonders Wichtiges im einfachen und komplizierten Leben der Lagermenschen auszudrücken.
    Es gab auch russische Wörter – rebjata, tabatschok, towarischtsch –, die die Gefangenen aus aller Herren Länder benutzten. Das russische Wort dochodjaga aber, das dem deutschen »Muselmann« entsprach, fand Eingang in den Sprachgebrauch der Lagerinsassen aller sechsundfünfzig

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