Lebendig und begraben
wusste, dass ich gekommen war, um ein Geschäft auszuhandeln.
Als er mich zu Nawrozows privatem Aufzug führte, sagte ich: »Ich fürchte, meine Pläne haben sich ein wenig geändert.«
Er wandte sich um und zog seine Augenbrauen hoch.
»Wir werden uns nicht in seiner Wohnung treffen. Ich habe ein Zimmer im Hotel reserviert. Nur ein paar Stockwerke tiefer.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob Mr. Nawrozow damit einverstanden sein wird.«
»Falls er seinen Sohn jemals wiedersehen möchte, darf man vielleicht etwas Flexibilität von ihm erwarten«, sagte ich. »Aber es ist natürlich seine Entscheidung.«
74. KAPITEL
Fünfzehn Minuten später öffnete sich die Fahrstuhltür zum achtunddreißigsten Stockwerk, und fünf Männer traten aus der Kabine.
Es war Roman Nawrozow mit einer kleinen Truppe von Bodyguards. Sie bewegten sich mit militärischer Präzision. Einer vor ihm, einer hinter ihm und einer an jeder Seite.
Diese Bodyguards schienen ein anderes Kaliber zu haben als die tumben Schläger, die er seinem Sohn zugewiesen hatte. Sie trugen teure Anzüge und Ohrhörer, wie sie auch Agenten vom Geheimdienst besitzen. Sie waren bewaffnet, schienen schusssichere Westen zu tragen, bewegten sich mit der Präzision gut ausgebildeter Soldaten und musterten mit raschem Blick jeden möglichen Winkel, aus dem Angreifer auftauchen konnten, während sie ihren Boss über den Flur geleiteten.
Roman Nawrozow war ein stämmiger Mann. Er war nicht groß, aber er strahlte Autorität aus. Er hätte ebenso gut auch ein vatikanischer Kardinal sein können, der auf dem Balkon des Petersdoms nach vorne tritt, um
»Habemus papam«
zu verkünden. Er hatte buschige Augenbrauen, und ein unnatürlich schwarzer Haarkranz rankte sich um eine große, kahle Halbkugel.
Er war sichtlich zornig und hatte die dünnen Lippen zusammengekniffen. Er trug einen schwarzen Blazer, unter dem ein Teil seines blütenweißen Hemdes hervorschaute, so als hätte er es gerade erst übergeworfen. Mitten in der Nacht durch die Hotelflure zu streichen verärgerte ihn maßlos.
Als die Gruppe den Flur zur Hälfte durchquert hatte, hob der erste Bodyguard die Hand. Nawrozow blieb stehen, flankiert von seiner Entourage. Inzwischen näherte sich der erste Bodyguard mit gezückter Waffe der Tür.
Er sah sofort, dass die Tür unverschlossen und an den Schnapper des Sicherheitsschlosses nur angelehnt war.
Er machte eine weitere Handbewegung, und der zweite Bodyguard schloss sich ihm an. Die beiden nahmen flink ihre Positionen an beiden Seiten der Tür ein. Der erste trat die Tür auf, dann drangen sie mit gezückter Waffe in klassischer militärischer Formation ein.
Vielleicht erwarteten sie einen Hinterhalt. Weil ich sie aber durch einen Türspion vom gegenüberliegenden Zimmer aus beobachtete, trafen sie niemanden an.
Ich tippte eine Nummer in mein Handy. »Bewege mich zur ersten Position.«
»Verstanden«, antwortete eine Stimme. Sie gehörte einem Mitglied meiner Abteilung bei den Special Forces namens Darryl Amos. Noch während ich im Flugzeug saß, war er schon in die Stadt gefahren. Er kam aus Fort Dix in New Jersey, wo er Soldaten für die logistische Planung von Truppenbewegungen ausbildete. Er hatte in der dreiundvierzigsten Straße in einem wanzenverseuchten Hotel namens Concord eingecheckt. Wenn man im Internet auf den Reiseportalen nachschaute, wurde es dort als das dreckigste Hotel der Stadt beschrieben. Vor kurzem hatte ein Zimmermädchen unter einem Bett eine in ein Laken eingewickelte Leiche gefunden. Das Laken wurde weiterverwendet, vorher allerdings wenigstens noch gewaschen.
Dann hatte er in einer Gasse hinter dem Strip-Club auf mich und Arkady Nawrozow gewartet.
Momentan spielte Darryl im Hotel Concorde den Babysitter für Roman Nawrozows Sohn. Ich war mir ziemlichsicher, dass der Sohn des Oligarchen niemals zuvor etwas Vergleichbares erlebt hatte.
Ich gab mich damit zufrieden, dass Nawrozows Männer einfach nur ihre Arbeit erledigten. Sie sorgten dafür, dass ihr Boss nicht in eine Falle lief, und versuchten keine riskante Nummer abzuziehen. Ich öffnete die Tür und überquerte den Flur.
75. KAPITEL
Eine Minute später stand ich am Fenster und nur wenige Meter von dem Mann entfernt, welcher der Drahtzieher von Alexa Marcus’ Entführung war.
Wir waren allein im Raum. Er saß mit gekreuzten Beinen im Zimmer und schaute mich herrisch an. »Sie sind ziemlich vertrauensselig«, sagte er.
»Weil ich unbewaffnet bin?«
Das waren wir beide.
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