Lebendig und begraben
»Jemand ist also in das Büronetzwerk eingedrungen.«
»Oder wir haben ein Leck«, meinte ich. »Jemand versucht mich zu erreichen. Ich muss drangehen.«
Ich nahm Dianas Anruf entgegen.
»Nick.« Ihre Stimme klang gepresst. »Ich habe gerade Nachricht von AT&T bekommen. Ich glaube, wir haben unser Mädchen gefunden.«
33. KAPITEL
Erst als Alexa das Internat besuchte, erfuhr sie, dass andere Kinder, normale Kinder, nicht solche Träume hatten wie sie. Die anderen träumten vom Fliegen, was sie manchmal auch tat, aber sie träumten auch, dass ihnen die Zähne ausfielen. Sie träumten, dass sie sich in Labyrinthen verirrten, oder stellten peinlichst verlegen fest, dass sie nackt in der Schule herumliefen. Sie alle hatten Angstträume, dass sie eine Abschlussprüfung in einer Klasse ablegen mussten, die sie vergessen hatten zu besuchen.
Alexa träumte das alles nicht.
Sie träumte immer und immer wieder, dass sie auf dem Bauch durch ein endloses Netzwerk von Höhlen kroch und Hunderte von Metern unter der Erde in einem der schmalen Tunnel feststeckte. Sie wachte immer schweißgebadet und zitternd auf. Sie hatte gelernt, was der Haken an solchen Phobien war. Sobald man nämlich eine hatte, versuchte ein kleiner Teil des Hirns ständig, seine Existenz zu rechtfertigen. Er versuchte einem zu zeigen, warum diese Phobie vollkommen logisch war.
War es denn nicht logisch, Angst vor Schlangen zu haben? Wer würde dem schon widersprechen? Warum war es nicht logisch, Keime zu fürchten, oder Spinnen oder das Fliegen mit einem Flugzeug? Man konnte daran sterben, richtig? Es war nicht so, als ob das Hirn sich sonderlich anstrengen musste, um irgendeine dieser Phobien zu rechtfertigen.
Aber in einem abgeschlossenen Raum eingesperrt zu sein, war das Schrecklichste, das sie sich vorstellen konnte. Dafür brauchte sie keine Logik. Sie wusste es einfach.
Wie eine Elster, die immer auf der Suche nach glänzenden, kleinen Gegenständen ist, sammelte ihr Verstand die grauenvollsten Geschichten, Geschehnisse, von denen sie las oder die sie von Freunden hörte, Ereignisse, die bewiesen, dass ihre Ängste real waren. Geschichten, welche die meisten Leute kaum beachteten, speicherte sie geradezu besessen in ihrem Gedächtnis.
Zum Beispiel Berichte aus Geschichtsbüchern, über Menschen, die während der Pest erkrankt waren, ins Koma gefallen und dann fälschlich für tot erklärt worden waren. Geschichten, von denen sie wünschte, sie hätte sie nie gelesen.
Storys von Sargdeckeln mit Kratzspuren auf der Innenseite. Skelette, die in ihren zusammengeballten, knochigen Fäusten menschliches Haar hielten.
Sie vergaß nie, was sie über dieses Mädchen in Ohio Ende des neunzehnten Jahrhunderts gelesen hatte, die krank geworden war und deren Arzt geglaubt hatte, sie wäre gestorben. Aus irgendeinem Grund war ihre Leiche in einem Gewölbe bestattet worden, das nur vorübergehend als Grab diente, vielleicht weil der Boden noch zu hart gefroren war, um sie zu bestatten. Als man im Frühling dieses Gewölbe öffnete, um die Leiche der Erde zu übergeben, stellte man fest, dass dem Mädchen das Haar herausgerissen worden war. Und dass einige ihrer Finger abgebissen worden waren.
Das Mädchen hatte ihre eigenen Finger gegessen, um am Leben zu bleiben.
Ihr Englischlehrer in Exeter hatte ihnen aufgetragen, Poe zu lesen. Es war schon schwer genug, überhaupt den Stil dieses Kerls zu begreifen, die merkwürdigen Worte zu verstehen, von denen sie noch nie zuvor etwas gehört hatte. Aber seine Geschichten … Sie konnte es nicht ertragen, sie zu lesen. Weil sie eine der wenigen war, die sie tatsächlich kapierte. Poe kannte sich aus, was Horror anging. Ihre Klassenkameraden hielten diesen Schriftsteller für pervers, sie aber wusste, dass Edgar Allen Poe die Wahrheit gesehen hatte. »Der Untergang des Hauses Usher« und »Eine Kiste Amontillado«, all diese Geschichten über Menschen, die lebendig begraben wurden … Sie brachte es nicht über sich, sie zu lesen. Wie schaffte das überhaupt jemand?
Warum nur dachte sie ständig über all diese grauenvollen Geschichten nach?
Wo sie doch gerade ihren eigenen, unbeschreiblich schlimmen Albtraum durchlebte.
34. KAPITEL
»Ihr Telefon ist angeschaltet und sendet«, erklärte Diana.
»Wo ist sie?«, wollte ich wissen.
»Leominster.« Sie sprach es falsch aus, wie die meisten Leute, die neu hergezogen waren. Angeblich soll es sich auf »Lemming« reimen, jedenfalls in etwa.
»Das ist eine knappe
Weitere Kostenlose Bücher