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Lebensbilder I (German Edition)

Lebensbilder I (German Edition)

Titel: Lebensbilder I (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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vor die Augen und klagte heftig weinend: »O du schöne Lebenszeit! – Saatenschoß menschlicher Größe und Unsterblichkeit, o gottgegebenes Leben, dessen wert zu sein, das höchste Ziel unserer Tätigkeit heißt! Ich strebte nach der Grabschrift: er hat nicht umsonst gelebt, und es wird von mir heißen: er hat gar nicht gelebt. Nun denn, gehe es, wie es mag! Ich bin einer fürchterlichen Macht anheimgefallen, sie feindet das Höchste in mir an, und trotz ihrer Übermacht foppt sie mit kleinlichem Hohne. Nun, es sei! da niemand doch seinem Schicksal entgehen kann!«
    Sein Blick fiel auf die Anwesenden, die immer noch erstaunt und furchtsam dastanden.
    »Ich sehe,« fuhr er fort, »Ihr begreift nicht, was mich bewegt, und haltet mich für rasend. Je nun! das Übel ist einmal geschehen. Morgen oder heut, Herr Perriguet, werden Sie Rektor. Gehen Sie, Mann des Unglücks! Jonathan, füg' eine reiche Gabe hinzu, daß ihn zeitlebens kein Mangel mehr nötigt, meine Fürsprache zu erbitten.«
    Es lag soviel Milde in Raphaels Stimme, und der plötzliche Übergang von grenzenloser Wut zur sanften Herzensgüte war so rührend, daß beiden Greisen Tränen in den Augen standen. Auf den Lippen des Professors schwebte schon eine klassische Dankrede, aber mit komischer Besorgnis hielt ihm Jonathan den Mund zu und schleppte ihn mit Gewalt durch die ganze Zimmerreihe fort, so sehr er sich sträubte und durch Gestikulation auszudrücken suchte, was sein Mund gehindert war, auszusprechen.
    Dem Befehle seines Herrn gemäß händigte Jonathan draußen dem Professor eine Rolle mit 100 Louisdor ein. »Mein armer Zögling!« rief Perriguet gerührt, »trotz seinem Wahnsinn hat er ein gutes Herz, und sein Wahnsinn dient gleichsam zur Folie desselben, als Kontrast krankhafter Wildheit mit einem gesunden Herzen auf dem rechten Fleck. Im Grunde ist es nicht Wahnsinn, was ihn quält, sondern nur eine fixe Idee, und es gibt viele Beispiele von Gelehrten, die in allen andern Stücken ganz vernünftig waren, nur wenn sie auf einen gewissen Punkt zu sprechen kamen, sich als Narren erwiesen. Schon zweihundert Jahre etwa vor Christi lebte in Rom –«
    »Stille, stille, guter Vater!« unterbrach ihn Jonathan, »habt Ihr nicht gehört, wie mein Herr gesagt – Ihr stehlt mit Euern Reden den Leuten die Lebenszeit? Ich bin ein alter Mann und habe auch kein Leben überflüssig. Übrigens seid Ihr hier in einem Hause, wo alles still und schweigsam zugeht.«
    Der Professor meinte, dies wären gelehrte Sachen, die keiner, der nicht von Jugend auf darin eingeweiht wäre, verstände, und ging.
     
    Längst schon hatte die Stunde geschlagen, wo die Vorstellung im Théâtre italien ihren Anfang nimmt, als noch schnellen Laufs eine prächtige Equipage in der Rue Favart daherrasselte und vor dem Portal stille hielt. Zwei Lakaien in reicher Livree sprangen zur Erde, öffneten den mit dem Wappen einer alten und edlen Familie gezierten Schlag und ließen den Tritt herab. Ein Jüngling, blond und stolz, entstieg dem Innern, aber seine Brauen waren gerunzelt, und in seinen Zügen lag der Mißmut des Reichtums; aus dem festgeschlossenen Munde und den dunklen, träumerischen Blicken sprach eine tiefe Melancholie. Eine neugierige Menge mit neidischen Blicken gaffte ihn an. »Und womit verdient der es denn, so reich zu sein?« fragte ein armer Musikus, weil ihm der Taler zu einem Billett mangelte, den er gern für Rossinis neue Oper »Semiramis« gegeben hätte.
    Langsam durchschritt der vielfach Beneidete die Korridore und versprach sich kein Vergnügen, nicht einmal eine Zerstreuung hoffte er zu finden, deren sein verzweifelnder Mißmut so sehr bedurfte. Der erste Akt war zu Ende, die Foyers füllten sich. Er ließ die Menge an sich vorüberstreifen und durchirrte die Galerien, unbekümmert um seine Loge, die er noch gar nicht betreten hatte. Endlich lehnte er sich an einen der Kamine im Foyer und ließ die junge und alte elegante Welt seinen Blicken vorüber sich durchkreuzen. Neue und alte Minister, Pairs ohne Pairschaften und Pairschaften mit zweifelhafter Erblichkeit, wie die Julirevolution sie hingeworfen und ausgestrichen, kurz, eine ganze Welt voll Spekulation und Journalismus bewegte sich friedlich durcheinander. Endlich fesselte eine ungewöhnliche Gestalt sein Auge. Sie hatte Haar und Backenbart und Henriquatre schwarz gefärbt und die Runzeln des Angesichts mit dicker, roter und weißer Schminke übertüncht. Zu diesem jugendlichen Kolorit kontrastierten die

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