Lebensbilder II (German Edition)
knüpfen.
Mitten im Saale, dem Fenster, welches auf den Balkon ging, gegenüber, saß ein vierjähriger Knabe mit einem Schaukelpferde, machte einen entsetzlichen Lärm und peitschte dasselbe, weil es für seine Wünsche nicht schnell genug auf seinem runden Fußgestell vorwärts wollte.
Da sprach seine Mutter vom Sopha her zu ihm: »Sei nicht so laut, Karl! du wirst deine kleine Schwester wecken.«
Das liebliche Kind verließ sogleich sein Spielwerk, schlich gehorsam auf den Zehen, um ja keinen Lärm weiter zu machen, nach der Wiege und hob mit beiden Fingern behutsam den Schleier auf, der das frische Gesicht des kleinen, schlafenden Mädchens verhüllte.
»Sie schläft also?« fragte er mit kindischer Verwunderung. – »Wie kommt es denn, daß sie schläft, weil wir doch munter sind?«
»Sie ist ja viel kleiner noch als du,« sprach die Mutter und erhob sich, um in dem Speisesaal den Mittagstisch zu besorgen.
Es war der 6. Mai des Jahres 1822, folglich der Jahrestag des Spazierganges nach dem Park de Saint-Leu, der über ihr Leben entschieden hatte. Dieses Fest ward jährlich ebenso heimlich wie freudenvoll gefeiert.
Karoline besorgte das Damastgedeck, bestellte und ordnete das Dessert an und versäumte nichts, was auf die gute Laune ihres geliebten Eugen von Einfluß sein konnte. Dann kehrte sie zur Wiege zurück, und weil die kleine Eugenie immer noch süß schlief, trat sie auf den Balkon, um nach dem Boulevard zu blicken, ob Eugen nicht bald einträfe.
Diesmal ließ er solange nicht auf sich warten. Das Kabriolett, welches er gegen sein Tilbury vertauscht, weil er es paßlicher für seine reiferen Jahre hielt, bog bald um die Ecke. Eugen stieg aus, eilte in den Saal, ward aufs zärtlichste von seiner Karoline bewillkommnet, hörte sich von dem kleinen Knaben unter allerlei drolligen Schmeicheleien Papa rufen, dann trat er zur Wiege, betrachtete das sanftruhende, kleine Wesen und wandte sich wieder zu seiner Gattin, der er mit den Worten ein Papier übergab:
»Hier, Karoline, ist das Vermögen dieses kleinen Schreihalses.«
»Warum empfängt Eugenie 3000 Franken Einkünfte,« fragte die Mutter, «weil Karl doch nur die Hälfte hat?«
»Einem Manne müssen 1500 Franken jährlich genügen,« sprach Eugen, »welche ihn vor Mangel schützen. Sollte er kein ausgezeichnetes Talent besitzen, so möchte ich wenigstens einen braven Mann aus ihm machen, der keine Torheiten begeht, wozu Überfluß leicht verleitet. Hat er Ehrgeiz, so wird er sich anstrengen, durch Arbeit ein besseres Los sich zu verschaffen.«
Nach Tische spielten Vater und Sohn miteinander aufs freundschaftlichste, und als es dunkel geworden, mußte eine Laterna magica auf einem ausgespannten Tischtuche ihre Künste und Geheimnisse zum größten Erstaunen des kleinen Karl darlegen. Die seltsame Freude des Kindes entlockte den Eltern gar oft ein herzliches Lachen.
Als der Knabe endlich zu Bette gebracht wurde, erwachte das kleine Mädchen und verlangte schreiend seine Nahrung. Eugen betrachtete schweigend und entzückt die reizende Mutter, wie sie so zärtlich ihr Kind ernährte. Niemals hatte er die Geliebte schöner gefunden. Sie selbst schien zu ahnen, was ihr Eugen in diesem Augenblicke für sie empfand, denn sie lächelte ihn mit zärtlichen Blicken an.
»Liebe!« sprach Eugen in einer schalkhaften Laune, »ich muß gehen. Ein wichtiges Geschäft erfordert meine Gegenwart. Die Pflicht geht allem anderen vor.«
»So geh!« sprach sie verdrießlich, »denn bleibst du noch, so lasse ich dich nicht fort.«
»O nicht doch, mein Engel! Ich habe drei Tage Urlaub, man glaubt, ich sei zwanzig Meilen weit fortgereist.«
Dankbar umarmte ihn die Geliebte, und beide gestanden sich, daß sie einer durch den andern die glücklichsten Geschöpfe wären.
----
Wenig Tage nach diesem Feste befand sich Frau von Bellefeuille auf dem Wege nach dem Marais. Sie pflegte ein sehr einfaches Haus in der Rue de St. Louis einen Tag um den andern zu besuchen. Ein Bote hatte ihr die Nachricht gebracht, daß ihre Mutter infolge ihrer Rheumatismen und Katarrhe sehr krank darniederläge.
Während der Fuhrmann auf die Pferde des Fiakers lospeitschte, wozu ihn Karoline durch die Aussicht auf ein reiches Trinkgeld vermochte, hatten mehrere alte Frauen, mit denen Madame Crochard während der letzten Zeit Bekanntschaft gemacht, einen Geistlichen zu ihr gebracht.
Die alte Magd derselben wußte nicht, daß die junge, schöne Dame, bei der ihre Gebieterin so oft zu
Weitere Kostenlose Bücher