Lebenschancen
Bildungsexpansion, Restrukturierung des Arbeitsmarkts und des beruflichen Positionsgefüges, Abbau der Beschäftigung im öffentlichen Sektor) für Tendenzen der sozialen Schließung verantwortlich sind.
Doch welche weiteren Ursachen gibt es? Da ist zum einen das Schulsystem, in dem früh (zu früh!) über den Bildungsverlauf von Kindern entschieden wird und dem es nicht gelingt, Begabungsunterschiede und Herkunftsprivilegien zu entkoppeln (Solga 2008). Spätestens seit den PISA -Studien wissen wir: Bildungserfolge und soziale Herkunft sind in Deutschland eng miteinander vertaut, ganz unabhängig von den Talenten und Kompetenzen des Kindes. Viele Untersuchungen aus der Bildungsforschung belegen, dass Kinder aus sozial schwachen Familien bei gleicher Kompetenz sehr viel seltener eine Gymnasialempfehlung erhalten als Kinder aus höheren sozialen Schichten.
Ein Arthur wird oft einem Kevin vorgezogen. Der grundlegende Anspruch eines chancengerechten Bildungssystems, nämlich dass bei gleicher Begabung auch die Wahrscheinlichkeit, ein bestimmtes Bildungsziel oder einen bestimmten Abschluss zu erreichen, für alle Gruppen gleich sein sollte, wird nicht erfüllt. Es gibt also »leistungsunabhängige soziale Filter« (Geißler 2006: 42). Man muss an dieser Stelle jedoch auch sagen, dass viele Mittelschichteltern in diesem Bereich eher auf eine Sicherung ihrer vermeintlichen Pfründe durch frühe Selektion und die Gatekeeper-Funktion des Gymnasiums setzen als sich für ein chancengerechteres Bildungssystem stark zu machen, von dem auch Kinder aus schwächeren Schichten profitieren könnten.
Qualifizierten Angestellten und Beamten gelingt es insofern nach wie vor, ihr Bildungsniveau an ihre Kinder weiterzureichen und die Unterschicht auf Distanz zu halten. Ihr Nachwuchs hat also auch heute noch wesentlich bessere Lebenschancen als Kinder aus bildungsfernen und einkommensschwachen Haushalten. Schon in den achtziger Jahren wurde allerdings darauf hingewiesen, dass Jugendliche, wollen sie den Lebensstandard ihrer Eltern halten, einen Schulabschluss benötigen, der mindestens eine Stufe über dem ihrer Eltern liegt (Hurrelmann 1988). Tatsächlich sind viele Mittelschichtkinder heute besser ausgebildet als ihre Eltern, sie haben zudem Praktika und Auslandsaufenthalte vorzuweisen, Zusatzqualifikationen angehäuft, sprechen mehrere Sprachen etc. Und dennoch reicht es häufig nicht. Verloren gegangen ist der beinahe automatische Link zwischen Studium bzw. Ausbildung und dem Vorrücken auf die oberen Ränge der sozialen Hierarchie.
Auch Mittelschichteltern müssen immer häufiger erleben, dass ihre Söhne und Töchter trotz sehr guter Qualifikation zunächst in der Unsicherheitszone landen und mit Ende dreißig noch keine stabile Umlaufbahn erreicht haben. Interessanterweise hängt das auch damit zusammen, dass der Nachwuchs qua Studien
fachwahl nicht selten in tendenziell prekären Beschäftigungssegmenten landet. Studien zeigen, dass Kinder aus einfachen Verhältnissen (wenn sie denn studieren) eher auf sichere Fächer wie Wirtschaftswissenschaften oder Ingenieurwesen setzen, während Mittelschichtkinder sich lieber in den Geistes- und Sozialwissenschaften tummeln (Ambrasat/Groß 2010). Sie wollen in die Medien oder an den Universitäten bleiben, streben nicht die klassische Karriere bei einem mittelständischen Maschinenbauunternehmen an.
Zugleich spürt die Mittelschicht, dass der Wettbewerb nicht nur härter wird, sondern dass – gemessen an den Regeln der Leistungsgerechtigkeit – nicht selten unfair gespielt wird. Gleichaltrige überholen die eigenen Kinder, ohne dabei eine erkennbar bessere »Leistungsbilanz« aufzuweisen. Es ist ein Mehr an familiärem Proviant und Treibstoff, das sie höher steigen lässt. Der Durchmarsch an die Spitze scheint immer schwerer zu werden, wenn man nicht auf familiales ökonomisches, aber auch soziales und symbolisches Kapital zurückgreifen kann (Bourdieu 1987). Die Zugehörigkeit zu bestimmten Zirkeln und Statusgruppen, die ständisch geprägte Auswahl, gewinnt möglicherweise wieder an Bedeutung. Ulrich Beck hat das schon früh als eine Folge der Bildungsexpansion ausgemacht:
»Der Abschluß allein reicht nicht mehr hin; hinzukommen müssen ›Auftreten‹, ›Beziehungen‹, ›Sprachfähigkeit‹, ›Loyalität‹ – also extra funktionale Hintergrundkriterien einer Zugehörigkeit zu ›sozialen Kreisen‹, die durch die Bildungsexpansion gerade überwunden werden sollten.« (1986:
Weitere Kostenlose Bücher