Lebenselixier
mit zerkratzter
Platte, Federkiel, vergilbtem Pergament und blutrot leuchtendem Siegellack.
Die rechte Seite wurde von mehreren dunklen, rissigen Ledersesseln und diversen
anderen Sitzmöbeln eingenommen. Dazwischen stand ein flacher Tisch mit einem
Schachbrett. Grob geschnitzte Holzfiguren waren auf und um das Brett verteilt,
als wollten die Spieler jeden Augenblick zurückkehren.
Ein staubiger Geruch hing in der Luft. Auch die Fackeln und das Feuer erfüllten
den Raum mit ihrem spezifischen Duft, doch es wurde keineswegs stickig. Es
musste ein ausgeklügeltes System an Lüftungsschächten geben.
Lukas ging zu dem
mit Fellen bedeckten Podest und ließ sich darauf nieder. Mit der Hand klopfte
er neben sich. Tony setzte sich bereitwillig an seine Seite. Sie hatte das
Gefühl, schon eine Ewigkeit herumzulaufen. Ihre Hand strich neugierig über ein
dickes, struppiges Tierfell.
„Das war ein Bär“, sagte Lukas.
Die schwache, flackernde Beleuchtung schien die alten Möbelstücke ringsum zu
geheimnisvollem Leben zu erwecken. Tony sah vor ihrem inneren Auge Leute in
mittelalterlichen Gewändern umhergehen, hörte den Nachhall der in
altertümlichem Dialekt geführten Unterhaltungen.
„Hier gibt es mehrere Räume, nicht? Haben viele Leute hier gewohnt?“
„Johann hatte zwei Brüder. Sie haben über lange Zeiträume auch hier gelebt.“
„Du meinst, deine Großmutter hatte drei Söhne?“
Lukas grinste verlegen, während er nickte. Natürlich wunderte sie das.
„Was ist aus ihnen geworden?“
„Johanns älterer Bruder starb in einem Kampf mit einem anderen Bluttrinker - es
war wohl so eine Art Duell. Friedrich war jünger als Johann. Er verschwand
irgendwann im achtzehnten Jahrhundert spurlos von der Bildfläche. Johann
vermutet, dass er auch tot sein muss.“
„Zwei Geschwister und beide sind tot? Das ist tragisch.“
In den Schatten
einer Raumecke erspähte Tony eine Wiege. Sie versuchte sich vorzustellen, wie
Johann als Säugling darin gelegen hatte. Der Gedanke, dass Lukas Vater einmal
so klein und pflegebedürftig war, erschien unsinnig.
Vor einem grob gezimmerten, mit Fell bezogenen Stuhl stand ein Spinnrad.
Vielleicht hatte Johanns Mutter damit Wolle versponnen, während ihr neu
geborenes Kind in seiner Wiege schlief.
Und später, als Johann älter wurde, saß er mit seinem Vater oder seinen Brüdern
an langen Sommertagen in diesen Sesseln, ins Schachspiel vertieft.
„Was ist aus
deinen Großeltern geworden?“
Sie rechnete nicht damit, dass die Antwort sehr erfreulich ausfallen würde,
denn Lukas Miene verfinsterte sich.
„Sie sind auch tot, wie du dir wahrscheinlich schon gedacht hast. Mariella
wurde während der Hexenverfolgung verbrannt. Sie haben damals viele
Gefährtinnen getötet. Du weiß schon: Verkehr mit dem Teufel.“ Er gab ein
kurzes, bitteres Bellen von sich. „Genau weiß ich nicht, was geschehen ist.
Gerwulf konnte sie nicht retten. Als es Tag wurde, ging er in die Sonne.“
Eine Weile schwiegen beide, hingen ihren Gedanken nach.
„Wenn du
meinetwegen dein Leben unter der Erde verbringen müsstest, hättest du sicher
länger drüber nachgedacht.“
Tony starrte ihn an. Trotz - oder gerade wegen - ihrer beider krampfhafter
Bemühung, es behutsam angehen zu lassen, schlich sich immer wieder ein
schräger, unpassender Ton in ihre Unterhaltungen.
„Entschuldige! So hab´ ich das nicht gemeint. Ich wollte selbst nicht ständig
hier Hausen. Obwohl ich manchmal gern herkomme.“
Lukas ließ sich auf das fellbedeckte Lager zurücksinken und beobachtete das
Licht und die Schatten, die unter der unregelmäßigen Felsendecke tanzten. Tony
drehte sich zu ihm um und beugte sich vor. Sie küssten einander sanft. Es wurde
Zeit, diese Missstimmung zu verscheuchen, das spürten sie beide.
Tony glaubte zu verstehen, was Lukas meinte. Natürlich hatte dieses Gewölbe
etwas Romantisches, ebenso schaurig wie schön. Sie bezweifelte nur, dass es
sich genauso anfühlen würde, wenn sie keine Wahl hätte.
„Hier unten fühle
ich mich immer ein Stück weniger menschlich“, fuhr Lukas nach einer Weile fort.
Tony drehte sich auf die Seite und stützte sich auf den Ellbogen. So konnte sie
sein Gesicht betrachten, während er fortfuhr, als spräche er mit der Decke.
„Jeremias sagt, das sei ein Phänomen der heutigen Zeit. Die Bluttrinker
früherer Jahrhunderte hatten dieses Problem nicht.
Ich vergesse ständig, dass ich kein Mensch bin. Und wenn ich dann mit der Nase
drauf stoße ...“ Er lachte leise.
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