Lebenselixier
jetzt stand ihm sein Ziel klar vor Augen: Er wollte hier
raus. Überleben!
„Bitte, reden Sie mit mir.“
Er handelte nur teilweise aus Berechnung, indem er versuchte, Hannah in
Gespräche zu verwickeln, sie zu zwingen, ihn als menschliches Wesen
wahrzunehmen. In den letzten Tagen quälte ihn die Angst, den Verstand zu
verlieren.
Nachdem seine Gefängniswärter endlich begriffen hatten, dass sein
Verdauungssystem auf menschliche Weise funktionierte, hatte Charles ihm eine
Infusion mit Nährlösung angehängt und einen Katheter gelegt. Doch das waren die
einzigen Zugeständnisse. Nur Walser sprach mit ihm. Seinem Assistenten und Hannah
hatte er jeden Wortwechsel streng untersagt. Nicht einmal direkt in die Augen
sehen sollten sie ihm, hatte er ihnen befohlen.
„Bitte!“
Hannah wich dem verbotenen Blickkontakt aus, während sie an seinem rechten Arm
eine Vene für die Blutentnahme suchte. Das hinderte ihn nicht daran, jede
Nuance ihres Ausdrucks zu studieren.
Mochte sein, dass sie Bluttrinker für unmenschlich genug hielt, um zu
rechtfertigen, dass man sie folterte und tötete. Doch Thomas vermutete längst,
dass es sich mit ihm anders verhielt. Und das nicht nur, weil sie ihn als
menschlich betrachtete. Welche verquere Mischung aus Mitleid und Verlangen es
auch sein mochte, die Hannah für ihn empfänglich machte, seine einzige Chance
zu entkommen führte über die unbewussten Wünsche dieser verklemmten Frau.
Er war sich keineswegs zu schade gewesen, sein Glück auch bei Charles zu
versuchen. Aber der Typ war dermaßen straight, dass er seine Avancen gar nicht
bemerkt hatte.
„Hannah!“
Endlich. Ihr Blick streifte sein Gesicht.
„Bitte, sprechen sie mit mir!“
Ängstlich schielte sie zur Tür. „Das darf ich nicht“, flüsterte sie, noch
leiser als er.
„Danke!“
„Wofür?“
„Ich hatte schon das Gefühl, dass ich gar nicht mehr existiere.“ Die Wahrheit
hinter seinen Worten verlieh seiner Antwort die erhoffte Wirkung.
„Es tut mir so leid.“ Ihre Stimme klang gequält. Walser hatte Thomas die
verbliebenen Reste seiner Kleidung vom Leib geschnitten, bevor er mit seinem
letzten Experiment begann. Er lag also mittlerweile nackt auf diesem
Stahltisch, von getrocknetem Blut und den verblassenden Narben der Verletzungen
bedeckt. Hannahs Augen huschten seinen Körper hinab. Ginge es Thomas besser, er
hätte mit einem Grinsen zu kämpfen gehabt.
Er war zwar nicht so groß und muskulös wie die meisten Bluttrinker, aber
harmonisch und feingliedrig. Glatte, feste Muskeln, von weicher, fast haarloser
Haut bedeckt – ein hübscher Junge, der für seine Größe und Statur überraschend
gut ausgestattet war. Und die Zeichen der Folter gestatteten es Hannah ihn zu
betrachten, ohne ihre Motivation zu hinterfragen.
„Sie können jeden
Moment zurückkommen“, flüsterte sie.
Thomas fühlte einen Energieschub, wie elektrischen Strom, durch seine
verkrampften Glieder jagen.
„Wir sind alleine?“ Und auf Hannahs furchtsames Nicken hin: „Warum flüstern Sie
dann?“
Hannah seufzte ängstlich. „Er wollte schon längst zurück sein. Es war schlimm
in den letzten Tagen. Je mehr er über diese Kreaturen herausfindet, umso
stärker nagt es an ihm.“ Ihr Blick wanderte erneut über den geschundenen Körper
vor ihr. „Sie müssen das verstehen. Es ist nicht so, dass er Sie persönlich
verletzen will. Aber sein Wunsch, die Welt von diesen Teufeln zu befreien ...“
Sie brach ab. Lauschte einen Moment, als befürchtete sie, Walser könnte sich
heimlich heranschleichen. „Und jetzt, seit er Sie gefunden hat, ist er
überzeugt, dass er seine Erkenntnisse nutzbringend für die ganze Menschheit
einsetzen kann.“
Selbst wenn es unmittelbar sein Leben gerettet hätte, wusste Thomas nicht, ob
es ihm gelungen wäre, darauf einzugehen.
„Das ist der Grund, warum er mich gefangen hält und foltert? Und weshalb er in
Amsterdam zwei Frauen ermorden ließ?“
Wenn er sie gegen sich aufbrachte, dann sollte es eben so sein.
Hannah schluchzte beinahe. „Wir alle bedauern es aufrichtig, dass Sie so leiden
müssen. Sie dürfen nicht Professor Walser die Schuld geben, an dem, was diese
Kreatur Ihnen angetan hat. Und da Ihre Seele nun einmal verloren ist ... aber
er würde niemals zulassen, dass Unschuldige getötet werden. Das weiß ich
genau.“
„Meine Seele?“ Thomas Stimme klang so fassungslos, wie er sich fühlte.
„Pst!“ Sie spähte angespannt in Richtung Tür.
„Hannah“, begann Thomas, bemüht, seiner Stimme jenen
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