Lebenselixier
erst am vergangenen Tag ausgiebig von
Tony genährt hatte, fühlte er sich, als litte er seit Tagen unter Entzug. Ein rein psychologischer Effekt , würde Jeremias vernunftgemäß
argumentieren.
Lukas war die
Vernunft egal. In den Stunden, die er in einem mit Stahltüren gesicherten
Gefängnis im Keller seines Elternhauses zubrachte, gewann er eine Erkenntnis: Die
entscheidende Frage war nicht, ob ein Bluttrinker in der Lage war, den Verlust
seiner Gefährtin zu überleben. Das Thema lautete: Wollte er das überhaupt?
Er kannte die
Antwort auf diese Frage, was ihn betraf, von der ersten Sekunde an, in der
seine Wahrnehmung von Tonys Präsenz abriss: Er wollte es nicht!
Ohne Tony war die Welt kein Ort, an dem er etwas verloren hatte. Dabei war die
Verbindung zwischen ihnen nach den wenigen Monaten kaum vollständig. Wie sich
ein solcher Verlust nach Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten anfühlen mochte,
darüber dachte er nicht einmal nach. Der Sinn seiner gesamten Existenz hatte
sich binnen Sekunden in Nichts aufgelöst.
Lukas verließ das
Haus seiner Eltern, sobald es möglich war. Das schwindende Tageslicht brannte
auf der vorgeschädigten Haut. Er schloss die Haustür leise hinter sich und
stieg in das rote BMW-Cabriolet, das direkt neben der Veranda parkte. Noras
neuestes Spielzeug.
Seine Mutter würde ihn nicht hören und Johann war abgelenkt. Wahrscheinlich
konferierte er noch immer mit seinem Hauptquartier. Lukas wusste, sein Vater
ließ nichts unversucht, um Tony aufzuspüren. Alle Jäger würden tun, was in
ihrer Macht stand. Er selbst sollte mithelfen - aber offenbar ging niemand davon
aus, dass er von Nutzen wäre. Und soweit sein Verstand zu objektivem Denken
fähig war, musste er eingestehen, sie hatten nicht unrecht.
Seine Gedanken drehten sich im Kreis. Sein Körper befand sich in permanenter
Alarmbereitschaft. Alles in ihm drängte danach, dieser Bedrohung mit
Schnelligkeit und Körperkraft zu begegnen. Dabei gab es nichts, wogegen er
kämpfen konnte.
Lukas Ziel war
das Penthouse, der Ort, an dem Tony verschwunden war. Es musste einfach
irgendein Hinweis zu finden sein!
Für ihn galt dasselbe, wie für Jan. Wer sollte in der Lage sein, die Spur
seiner Gefährtin aufzunehmen, wenn nicht er selbst? Ganz davon abgesehen, dass
Untätigkeit ihn in den Wahnsinn treiben würde. Jede Form von Aktivität war
besser.
Er parkte den
Sportwagen in der ruhigen Seitenstraße neben der Einfahrt zur Tiefgarage. Das
Rolltor war heruntergelassen und das lädierte Schloss bemerkte man nur aus
nächster Nähe. Dass so wenig sichtbarer Schaden entstanden war erfüllte ihn mit
unsinniger Wut. Das Gebäude sollte in Trümmern liegen, genau so, wie sich sein
Innenleben anfühlte.
Der Aufzug
funktionierte nicht. Die Elektronik war kurzgeschlossen, seit die Alarmanlage
zerstört wurde. Für Lukas bedeutete es keine Anstrengung, die Treppe hinauf zu
laufen. Im Gegenteil. Die Stufen zu erklimmen hatte etwas ausgesprochen
Befriedigendes. Warum konnte das Haus nicht zwanzig Geschosse hoch sein? Oder
hundert?
Die ganze Zeit
war Tonys Geruch in seiner Nase. Sie ist hier gewesen!
Auf dem letzten Absatz vor dem Penthouse verharrte er. Der Wandschrank mit dem
Putzzeug war regelrecht von Tonys Angst durchdrungen. Lukas stand vor der
schmalen Tür und zwang sich ruhig zu atmen. Hier hatte sie sich versteckt.
Er lehnte sich an die Wand und kämpfte gegen alles, was ihn als Bluttrinker
ausmachte.
Sterbliche hatten
seine Gefährtin bedroht, sie gefangen genommen und verschleppt!
Die leere Stelle in seinem Kopf, wo Tony in den vergangenen Monaten immer mehr
Raum eingenommen hatte, schmerzte wie ein entzündeter Zahn. Das Bedürfnis,
einfach loszurennen, alles niederzumachen, was sich ihm in den Weg stellte,
drohte übermächtig zu werden.
Er ließ sich an
der Wand hinunterrutschen, bis er auf dem kühlen Steinboden hockte. Gnadenlos
holten ihn Erinnerungen ein, die er verdrängt hatte, seit er aus der Transformation
aufgetaucht war, spulten sich vor seinem geistigen Auge ab, als sei die in zartem
Beige gestrichene Treppenhauswand eine Leinwand, die nur auf ihn gewartet
hatte.
Tony, mit an den Körper gezogenen Knien, an das Kopfteil des Bettes gekauert. Aus
großen, waidwunden Augen sah sie ihn an.
Er hatte sie angesprochen, so leise und sanft er konnte und er empfand noch
immer die maßlose Erleichterung, als sie sich entspannte, auf ihn zurutschte
und ohne Zögern seine Fesseln löste.
Sie hatte noch lange in seinen Armen gelegen
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