Lebenselixier
Sie das Ding raus!“
„Das wird sehr weh tun“, jammerte Hannah. Ihre tastenden Finger lösten sich
wieder von seinem Hinterkopf.
„Das haben wir doch längst besprochen. Dann tut es eben weh!“ Mit letzter Kraft
hielt Thomas den Fluch zurück, der ihm auf der Zunge lag. Herrgott noch mal! Dieser Frau gelang, was Walser mit all seinen Foltergerätschaften nicht
geschafft hatte. Sie trieb ihn in den Wahnsinn!
„Glauben Sie denn, dass ich jetzt keine Schmerzen habe?“
Sie kam um die Liege herum, bis sie in Thomas Blickfeld auftauchte. „Wir haben
das noch nie entfernt, bevor … Vielleicht bringe ich Sie um!“ Hannah klang zunehmend
schriller.
Thomas hegte eine
ganz andere Befürchtung: Die Manipulation an seiner Wirbelsäule könnte ihn
lähmen. Womöglich war er das sogar längst! Die lange Bewegungslosigkeit hatte
ihm jede normale Empfindung für seine Gliedmaßen genommen.
Wie auch immer, er musste es riskieren. Wenn er Glück hatte, würde Jan ihn
spüren können, sobald die Zufuhr der Droge gestoppt wurde. Wenn er Pech hatte,
dauerte es eine Weile, bis sein Organismus das Mittel abbaute. Dann musste er
auf seinen eigenen Füßen fliehen. Dabei hatte er keine Ahnung, ob seine Beine
ihm noch gehorchten.
„Hannah, wir haben das alles besprochen. Ziehen Sie das Ding raus! Jetzt!“
Greller Schmerz,
der wie ein Blitz durch sein Rückgrat zuckte. Thomas schrie. Doch die Qual
verblasste so schnell, wie sie gekommen war, ließ nur einen dumpfen Kopfschmerz
zurück, den er wiedererkannte. Er hatte geglaubt, es seien die Nachwirkungen
eines Schlags auf den Kopf, als er vor Tagen mit diesem Druck im Schädel
erwachte.
Thomas blinzelte
die Tränen weg und sah in Hannahs schreckgeweitete Augen. Sie presste eine Hand
auf den Mund, mit der anderen hielt sie einen dünnen, blutverschmierten
Schlauch umklammert.
„Oh Gott! Oh Gott, oh Gott, oh Gott …“
„Hannah!“ Thomas wünschte, seine Stimme klänge laut und entschlossen. Was über
seine Lippen kam, glich eher einem gequälten Keuchen. Er durfte sie auf keinen
Fall ihrer Hysterie überlassen. Noch brauchte er sie.
„Hören sie auf! Sofort!“
Sie verstummte.
„Sie dürfen jetzt nicht schwach werden. Denken Sie an Erika. Sie müssen stark
bleiben und die Nerven behalten. Für Erika!“
Sie starrte noch einen Herzschlag lang, dann nickte sie hektisch. Die Strähnen,
die sich aus ihrem Haarknoten gelöst hatten, hüpften auf und ab.
„Erika, ja.“
Ihr Blick fiel auf den Schlauch. Sie ließ das blutige Ding fallen, als hätte es
sie gebissen. Zum Glück fand sie ihre Fassung so weit wieder, dass sie sich den
Schlössern zuwandte, welche das Stahlgitter über ihm festhielten. Thomas sah
Hannahs Hände beben. Ungeschickt fummelte sie herum.
Er selbst lauschte angestrengt in sich hinein. Er hätte schreien mögen. Nichts
hatte sich verändert. Weder fand er die Verbindung zu Jan, noch fing er
irgendetwas anderes auf.
Dann musste er eben ohne Hilfe von außen hier rauskommen!
Was, wenn diese verdammte Droge seine telepathische Gabe nicht nur zeitweise,
sondern ein für alle Mal lahmgelegt hatte? Der Gedanke erschien ihm fast
schlimmer, als gelähmt zu sein.
Ein lautes
Klicken ließ Thomas zusammenzucken. Hannah hatte ihn mit ihrer Angst, Walser
könnte zu früh zurückkehren angesteckt. Aber es waren nur die Schlösser, die
endlich aufsprangen. Er konnte ein schluchzendes Geräusch der Erleichterung
nicht zurückhalten, als Hannah sich gegen das Stahlgitter stemmte und es anhob.
Thomas Arme versuchten, schon aus Reflex, ihr zu helfen. Aber es gelang ihm
kaum, sich zu bewegen, geschweige denn das Gewicht des Stahls zu heben.
Glücklicherweise rastete das Gitter in den Scharnieren ein, sobald es senkrecht
stand.
Thomas sog die
Luft tief in die Lungen. Sein Brustkorb schmerzte höllisch. Die gesamte
Atemmuskulatur war verkrampft, von allen übrigen Muskeln ganz zu schweigen.
„Langsam“, redete er sich zu. „Immer mit der Ruhe und ganz langsam.“
Er bewegte Hände und Füße. Die Infusion zerrte an seinem Arm.
„Warten Sie.“ Hannah rumorte hinter ihm herum und kam mit einem Tupfer zurück,
den sie in seine Armbeuge presste, während sie die Kanüle herauszog.
Thomas beugte die
Knie. Seine Waden und Oberschenkel reagierten augenblicklich mit Krämpfen. Er
konnte nur stöhnen und keuchen. Reflexartig versuchte er sich auf die Seite zu
drehen - und wurde daran erinnert, dass noch ein anderer Schlauch in seinem
Körper steckte. Aus den Augenwinkeln bemerkte
Weitere Kostenlose Bücher