Lebenselixier
erkennen konnte. Außerdem fühlte er in etwas
weiterer Entfernung andere Menschen, vermutlich in einem nahegelegenen Gebäude
oder auf der Straße. Und er spürte vor allem Jan und wusste, dass sein
Bluttrinker ihn ebenso wahrnahm.
„Wie spät ist
es?“
Sein suchender Blick fand eine Uhr an der Wand hinter ihm. Zweiundzwanzig Uhr
dreiundvierzig. Jan würde sich auf den Weg machen, sobald das Licht es zuließ.
„Wo genau sind wir hier?“
Hannah gaffte verängstigt.
Es war, als versorgte die geistige Verbindung mit Jan ihn tatsächlich mit
Energie. Seine ganze Haltung hatte sich gestrafft, in dem Bewusstsein, dass er
nicht alleine war. Er stand ohne Anstrengung, machte einen vorsichtigen Schritt
auf Hannah zu. Die Gewissheit, dass er es schaffen würde, dass er diese
Folterkammer lebend verlassen würde, veränderte alles.
„Antworte mir! Wie weit sind wir von der Kölner Innenstadt entfernt?“
Sie starrte ihn an wie ein Gespenst.
Neben der Tür an der Wand hingen zwei Laborkittel. Ungelenk tappte er darauf
zu.
„Walser hatte recht“, sagte er. „Ich kann telepathischen Kontakt herstellen.“ Er
zog sich einen der Kittel über. „Au, scheiße!“ Seine Schultern rebellierten bei
der Bewegung.
„Ich kann zu dem Vampir Kontakt aufnehmen, mit dem ich durch Blut verbunden
bin. Oder vielmehr ist die Verbindung unterbewusst immer da. Seit ein paar
Sekunden weiß Jan, dass ich lebe. Und er weiß so genau, wo ich bin, als hätte
ich ein GPS im Kopf. Es ist über eine Woche her, seit er zuletzt von mir
getrunken hat. Er ist auf dem Weg hierher.“
Thomas ließ die wachsbleiche Hannah nicht aus den Augen. Er traute ihr weder
die Fantasie noch die Entschlossenheit zu ihn zu bedrohen, doch er wollte nichts
riskieren.
Als er sich auf sie zu bewegte, wich sie bis zur Wand zurück. Panisch presste
sie beide Hände vor den Mund, als wollte sie schreien.
„Keine Angst. Ich tu dir nichts. Es sei denn, du zwingst mich dazu.“ Thomas
packte sie bei den Schultern. „Hör mir zu, Hannah!“ Er fing ihren
umherflatternden Blick ein. „Ich bin sicher, auch die Jäger sind schon auf dem
Weg. Sie werden Walser und Cross auf jeden Fall töten. Die Angehörigen der
ermordeten Jungen werden beim Rat ihren Tod einfordern. Außerdem wissen sie
viel zu viel.“
„Rat?“
„Das ist so was wie unsere Regierung.“
„Unsere?“ Seine Worte sickerten in ihren Verstand. „Oh Gott, Sie haben mich
belogen! Sie haben die ganze Zeit gelogen!“ Hannah krümmte sich wie unter
Schmerzen. Thomas drückte ihre Schultern zurück an die Wand.
„Das war meine einzige Chance, nicht wahr? Aber ich habe dich nicht belogen,
was Erika betrifft. Wenn sie mit einem Bluttrinker zusammen ist, kann ich deine
Schwester aufzuspüren. Ich bin wirklich bereit dir zu helfen! Aber du musst
jetzt noch eine Weile mir helfen! Es liegt bei dir, ob die Jäger einen guten
Grund bekommen, dich am Lebens zu lassen. Wenn du mir hilfst, werde ich mich
dafür einsetzen. Verstanden?“
Begriff Hannah, was er sagte? Sie wirkte benommen, als hätte ihr Verstand sich
in irgendeinen entfernten Winkel zurückgezogen, um diese ungeheuerliche Wendung
nicht zur Kenntnis nehmen zu müssen.
„Komm mit mir, und ich helfe dir, deine Schwester aufzutreiben. Oder soll ich
dich fesseln und in einen Schrank sperren? Dann kannst du herausfinden, ob
Walser oder die Jäger dich zuerst finden. Du hast die Wahl. – Also sag mir, wo
wir hier sind!“
„Wir sind nicht in Köln“, brachte sie hervor.
„Wo?“
„Amsterdam“, flüsterte Hannah so leise, dass Thomas zuerst glaubte – und hoffte
– er hätte nicht richtig gehört.
35
Ich spüre sie
nicht mehr! Seit Stunden versuchte Lukas, diese fünf
Worte zu verdrängen. Sie hallten als nicht enden wollendes Echo in seinem
Schädel wieder. Die leblose Stimme des geschockten Jan vermischte sich mit
seiner eigenen, gestattete ihm kaum einen konstruktiven Gedanken.
Die gequälte
Apathie, die er an Jan wahrgenommen hatte, führte ihm vor Augen, welchen
Eindruck er selbst gerade bot. Dazu hätte er nicht einmal Noras Angst sehen
müssen und ihr verheultes Gesicht, als Johann ihn mit Gewalt in den Keller der
Villa schleppte und einsperrte. Sein Vater hatte befürchtet, er könnte sich in
der ersten Verzweiflung des Verlustes umbringen.
Lukas hatte sich
Schnittwunden zugezogen, gebrochene Rippen und Verbrennungen. Mittlerweile
fühlte er den Schmerz seiner Blessuren sogar. Ein Zeichen, dass sein
Adrenalinspiegel sank. Obwohl er sich
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