Lebenslänglich Klassenfahrt: Mehr vom Lehrerkind (German Edition)
spontan die Hupe betätigt. Herr Wolke ließ seine Erdnüsse fallen, Patrick neben mir sackte erschrocken zur Seite weg, und selbst unser Busfahrer schien sich einen Augenblick erschreckt zu haben, jedenfalls scherte der Bus für einen Moment aus und fand erst schlingernd wieder in seine Spur. Herr Sommer hatte eine Presslufttröte ans Bordmikrofon gehalten, ein paar Schülern lief zwar wahrscheinlich gerade Blut aus dem Ohr, aber immerhin hatte er jetzt unsere ungeteilte Aufmerksamkeit.
»Ich sag es euch gleich, ich hab keine Lust auf irgendwelche Mätzchen, auch wenn das eine Abschlussfahrt ist, werde ich kein Sodom und Gomorrha dulden, ihr seid hier immer noch in der Schule.«
»Komisch«, sagte Patrick, »ich wusste gar nicht, dass es in unserer Schule McDonald’s gibt«, lachte und zeigte auf das gelbe Burgerbraterschild, das gerade an der Autobahnraststätte an uns vorüberzog. Ich wünschte manchmal, ich hätte seinen Galgenhumor.
Hotel Dolores
Das Hotel Dolores enttäuschte uns nicht, es befand sich mitten im Stadtzentrum Amsterdams, wo sich Szeneviertel und Rotlichtviertel trafen und zu einer wahrscheinlich weltweit einzigartigen Mischung verschmolzen. Weil Reisebusse offensichtlich noch nicht erfunden waren, als sich die einzelnen Straßenzüge Amsterdams herausgebildet hatten, mussten wir an einer breiten Hauptstraße halten, wo uns der Bus entlud. Ein Stau bildete sich, die Amsterdamer hupten einen Dreivierteltakt in die Mittagsluft, und unser Busfahrer winkte dazu beschwichtigend alle paar Augenblicke aus seinem Seitenfenster. Das sah eher nach Improvisationstheater als nach realem Leben aus. Ein überdimensionierter Koffer nach dem anderen wurde aus dem Bus gehievt, man konnte glauben, manche Schülerinnen wären mit ihrem kompletten Hausstand angereist. Als Herr Wolke nachfragte, was sich denn in den zentnerschweren Reisekoffern für gerade mal drei Tage Klassenfahrt befinde, winkten die meisten Mädchen genervt ab, nur Funda erklärte sich mit: »Sie glauben doch wohl nicht, dass ich ohne Glätteisen in den Urlaub fahre, Herr Wolke … no way!« und schwang dazu ihren erhobenen Zeigefinger wie einen Taktstock durch die Luft.
Das Hotel selbst war am besten mit dem Wort »zweckmäßig« zu beschreiben: eine Übernachtungsstätte, an der man ohne größeren Schaden mehrere Stunden Nachtruhe zubringen konnte, wo sich aber jede überflüssige Minute wie Folter anfühlte. Das mehrgeschossige Grachtenhaus war so schmal, dass man mit ausgestreckten Armen die Fenster auf beiden Seiten der Haushälfte gleichzeitig öffnen und schließen konnte, und an der Rezeption begrüßte uns eine runzelige Oma, die ein braunes Haarnetz auf dem Kopf trug. Da sie offensichtlich schlief, betätigte Herr Sommer mehrmals die kleine Hotelklingel auf dem Rezeptionstresen, was die Frau immerhin zu einem halbwachen Grunzen veranlasste.
»Boah, is datt ’ne Absteige«, formulierte Martin Siekmann, während wir in dem muffigen schmalen Flur auf das Erwachen unserer Herbergsmutter warteten. Es stimmte, neben Indien und ein paar entlegenen Südseekolonien war dies wahrscheinlich der einzige Ort der Welt, an dem man noch quicklebendige Pesterreger finden konnte. Aber wenigstens war keine Gastfamilienoma mit Mordabsichten oder ein schlecht gelaunter Skiliftbetreiber auszumachen – schon mal eine klare Verbesserung gegenüber unseren früheren Reisen. Herr Sommer hämmerte noch mal auf die Klingel und wischte sich die Hand dann am Anzugärmel ab, doch nichts passierte.
Dann kam wieder die Presslufttröte zum Einsatz, Herrn Sommers Allzweckwaffe des Alltags. »Tröööt«, gellte es durch den muffigen Hotelflur direkt in Richtung des Haarnetzes. Die kleine Frau schreckte hoch, als hätte Sommer ihren »On«-Schalter entdeckt. Erstaunlich freundlich, nestelte die Dame eine Gästeliste hervor und verteilte uns auf unsere Zimmer, ich durfte mir meines zum Glück mit Patrick teilen. Die Zimmer erinnerten vom Raumangebot eher an U-Boot-Kojen, und die Haare in der Dusche schienen ein Eigenleben zu entwickeln. Bei der Wahl des Duschwassers konnte man nur zwischen »Eisschmelze« und »Isländischer Geysir« entscheiden, und in den Toiletten benutzten Ratten schwimmende Köttel als Surfbretter. Statt einer Decke lag ein schmales Tuch auf dem neunzig Zentimeter breiten Bett, was wahrscheinlich schon bei Ehepartnern zu Revierkämpfen geführt hätte – bei zwei Teenagern, die nicht unbedingt »Löffelchen« liegen wollten, bedeutete dies,
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