Lebenslänglich Klassenfahrt: Mehr vom Lehrerkind (German Edition)
Sommer und hielt kurz inne, als müsste seine Zunge Kraft sammeln, wie ein Muskel, der zum Schlag ausholte. Wir nickten wie eine Armee aus Wackeldackeln, gleich würde er uns offenbaren, dass sich die Schulmittel mittlerweile so nah am Staatshaushalt von Griechenland orientierten, dass unsere Abschlussfahrt leider nicht nach Amsterdam, sondern nach Gelsenkirchen-Horst gehen würde, wohin man sogar zu Fuß gehen könnte.
Doch das, was dann kam, war schlimmer als Gelsenkirchen-Horst.
»Frau Möbus ist leider krank, daher werde ich für sie mitfahren«, sagte er, und abermals schien sich die Raumtemperatur um ein paar Grade abzusenken.
Ein Raunen ging durch die Klasse, das man wahrscheinlich als Vorzeichen eines Erdbebens auf den Seismografen ablesen konnte. Selbst Herr Wolke schluckte merklich, gerade erstarben seine Hoffnungen auf ein bierseliges Kulturwochenende mit seiner Lieblingsklasse. »Lord Voldemort« mitzuführen, klang so sehr nach Spaß wie eine Warzenvereisung.
Hanna vor mir sank in sich zusammen, aus ihrem eben noch angespannten Körper schien jede Luft zu weichen.
»Aber Herr Direktor, das ist bestimmt nicht nötig, Ihre Zeit ist doch zu kostbar, da kann ich die Klasse sicher auch alleine beaufsichtigen!«, sagte Herr Wolke mit fast flehender Stimme.
»Keinesfalls, die Schulordnung sieht vor, dass jede Klasse von zwei Pädagogen betreut wird. Wer soll sich denn um die Schüler kümmern, falls sie krank werden oder einen Unfall haben? Außerdem ist keiner der anderen Lehrer abkömmlich, das Fortbildungswochenende steht an.«
Herr Wolke senkte den Kopf, das Totschlagargument war gefallen, game over. Seit Direktor Sommer regelmäßige verbindliche Fortbildungen eingeführt hatte, dämmerten unsere Pädagogen regelmäßig über die Wochenenden in grauen Plattenbauten in der Eifel dahin und versuchten zu verstehen, dass PowerPoint die moderne Form des Overheadprojektors war. Es wirkte eigenartig, dass Herr Sommer, bei dem man jedes Gespräch über Wochen im Voraus anmelden musste und der immer gehetzt und gestresst wirkte, plötzlich genug Zeit hatte, um uns in Amsterdam zu beaufsichtigen.
»Uh, das ist nicht gut«, zischte Patrick neben mir, während Herr Sommer kehrtmachte und, Eishauch vor sich hertreibend, wieder auf den Flur trat.
On the Road again
Der Bus war, den Umständen geschuldet, mal wieder ein Modell von Rudis Resterampe, allerdings musste er uns diesmal auch nicht über die Alpen hieven oder eine Fährüberfahrt bestehen. Dementsprechend gab es deutlich weniger Eltern, die sich bekreuzigten und Gebete aussprachen, als das Ding vom Schulhof rollte. Mein Vater stand nur da und nickte, anstatt zu winken, die Abschlussfahrt war irgendwie auch eine zeremonielle Verabschiedung von der Kindheit, ich zog als Jugendlicher los und kehrte als Erwachsener zurück. So lautete jedenfalls mein Plan. In seinen Augen waren Initiationsriten Blödsinn, jedoch war die Tatsache, dass er mir zum Abschied die Hand gab, anstatt mich wie ein paar Jahre zuvor noch wie Hui Buh das Schlossgespenst mit Penaten einzureiben, war schon Signal genug, dass ich in seinen Augen erwachsen geworden war.
Jetzt fehlte nur noch die Krönung meiner Reifung: die längst überfällige Liebeserklärung an Hanna Sommer. Sie hatte direkt hinter ihrem Vater Platz genommen, der hektisch versuchte, das Bordmikrofon zur Mitarbeit zu bewegen. Neben ihm wühlte Herr Wolke in einer Tüte Erdnüsse, er sah unzufrieden aus wie ein Stammspieler, der gerade auf die Ersatzbank verbannt worden war.
So viele Jahre hatte ich jetzt hinter Hanna gesessen, in der Schule, im Bus und im Leben. Bald musste damit wirklich Schluss sein, weil sonst das Abitur endgültig jede Verbindung zwischen uns kappen würde. Wenn nicht auf dieser Abschlussfahrt, dann nie, dachte ich und drückte mich schicksalsschwer in den Sitz.
»So, Kinder, wir haben die Schule pünktlich um 9:30 Uhr verlassen und müssten dann bei der derzeitigen Verkehrslage pünktlich um 12:30 Uhr am Hotel Dolores in Amsterdam ankommen«, verlautbarte Herr Sommer, doch niemand hörte zu. Gökhan turnte zwischen den Sitzen hin und her, eine Armada aus Papierfliegern flog von der letzten in die erste Reihe und wieder zurück, manche Schüler hatten sich bereits mit ihren iPods weggestöpselt und lehnten schlaftrunken an der vom mangelhaften Bodenbelag zitternden Busscheibe.
»TRRÖÖÖÖÖT«, machte es plötzlich, es klang, als hätte jeder Lkw zwischen Gelsenkirchen und Amsterdam gerade
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