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Lebenslang

Lebenslang

Titel: Lebenslang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schwindt
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abwarten.
    Geduld war nie ihre Stärke gewesen. Jeder Mann, der versucht hatte, mit ihr zusammenzuleben, hatte das erfahren müssen. Yvonne hatte sich in eine Frau verwandelt, die die Gesellschaft von Menschen nicht mehr gut ertrug. Es hatte lange Jahre gedauert, bis sie sich das eingestehen konnte. Zu große Nähe machte sie nervös. Ihr Problem war nicht mangelnde Empathie, sondern ein Übermaß an Einfühlungsvermögen. Das war auch der Grund gewesen, warum sie froh war, als ihr Sohn auszog. Nein, froh war vielleicht der falsche Ausdruck. Erleichterung traf es eher. Erleichterung darüber, dass sie es unter den schwierigen Bedingungen geschafft hatte, eine gute Mutter zu sein.
    Glücklicherweise hing Florian nicht an ihrem Rockzipfel. Ganz im Gegenteil. Schon früh hatte er versucht, den Mann im Haus zu ersetzen und sich erwachsener zu verhalten, als er tatsächlich war. Das war seine spezielle Art, mit den Problemen fertigzuwerden, vor denen Yvonne nach ihrem Erwachen aus dem Koma gestanden hatte und die auch die Probleme ihres Sohnes hatten werden sollen. Nein, sie war nicht erleichtert, dass sie ihr Leben wieder zurückhatte. Sie war erleichtert, dass sie nicht mehr die Verantwortung für ihren Sohn tragen musste, der ohnehin selbstständiger und vernünftiger war als sie.
    Der Schmerz machte sich bemerkbar. Also befand sie sich auf einem guten Weg. Es würde nicht lange dauern, und sie würde Arme und Beine bewegen können. Das hasste sie am meisten, diesen absoluten, allumfassenden, hundertprozentigen Kontrollverlust, der sich mit einer Aura ankündigte und dann wie ein Blitz in sie hineinfuhr. Wie bei einem Huhn, dem man den Kopf abgeschlagen hatte, was den restlichen Körper aber nicht daran hinderte, flügelschlagend weiterzuzucken. Ihre Finger tauten auf. Sie musste Florian anrufen, damit er sie ins Krankenhaus fuhr. Ungelenk tastete sie nach dem Handy in ihrer Hosentasche, doch es fehlte die Kraft, es herauszuziehen. Noch immer lief ihr das Blut ins Ohr.
    Yvonne drückte den Handrücken auf ihre Stirn und stöhnte auf, als sie die dick geschwollene Platzwunde berührte. Mit jedem Atemzug füllte sie ihren leeren Körper wieder aus. Als sie sich kräftig genug fühlte, drehte sie sich auf die Seite und robbte an die schmutzig graue Wand, um sich anlehnen zu können. Die schmierige Blutspur, die sie dabei hinter sich herzog, war überraschend breit. Sie blickte hinab auf ihr hellgrünes T-Shirt, das jetzt auf der rechten Seite einen nassen schwarzen Fleck aufwies. Auch die Jeans war gesprenkelt. Die ausgelaufene Milch mischte sich mit dem Blut, das sich wie eine Wolke im dünnen Weiß der Flüssigkeit auflöste.
    Hinter der Wohnungstür, ein halbes Stockwerk tiefer, hörte sie plötzlich eine Stimme. Die Tür wurde geöffnet, und ein Mann trat heraus, einen leeren blauen Rucksack unter den Arm geklemmt.
    »He«, flüsterte Yvonne.
    Der Mann wandte den Kopf zu ihr und stieß einen Fluch aus, als er sie sah. Augenblicklich ließ er den Rucksack fallen und eilte die Stufen zu ihr hinauf. »Oh Scheiße«, sagte er nur, als er das Blut und die Wunde sah.
    »Ich glaube, ich brauche einen Krankenwagen«, flüsterte Yvonne.
    »Wie hast du das denn angestellt?« Er holte aus der Tasche seiner Cargohose ein Paket Papiertaschentücher und begann, ihr das Blut aus dem Gesicht zu wischen.
    »Ich habe eine Stufe verpasst.«
    Der Mann schaute sie an, als hätte sie in diesem Moment seine Intelligenz beleidigt.
    »Oh, Axel«, sagte sie mit leiser Stimme. »Bitte keine Diskussion. Nicht jetzt.«
    »Hast du dir etwas gebrochen?«
    Yvonne versuchte mit den Schultern zu zucken, aber selbst das fiel ihr noch schwer. »Keine Ahnung. Kann ich dir nicht sagen.«
    Axel verzog das Gesicht, als er die Platzwunde über der rechten Augenbraue begutachtete. »Das muss genäht werden.«
    Yvonne war zwar froh, dass sie die Schmerzen spürte. Aber nun war es auch gut, es reichte. Sie brauchte sich nicht mehr zu vergewissern, dass sie noch lebte.
    Axel hastete die Treppe wieder hinunter und schloss die Wohnungstür auf. Keine Minute später erschien er mit einem Erste-Hilfe-Kasten, der noch in Plastikfolie eingeschweißt war. Hinter ihm tauchte seine Freundin Bianca auf und schlug sich erschrocken die Hand vor den Mund, als sie Yvonne sah. Axel warf ihr sein Handy zu. »Ruf bitte einen Krankenwagen.«
    »Tut mir leid wegen der Sauerei«, flüsterte Yvonne.
    Axel sah sie an, als hätte sie den Verstand verloren. »Sonst geht es dir noch

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