Lebenslang
gut, was?« Er säuberte die Wunde und klebte vorsichtig eine Kompresse auf die Stirn. Dann setzte er sich auf die Stufen und holte tief Luft.
»In zehn Minuten ist jemand da«, sagte Bianca, die wieder in der Wohnungstür erschienen war.
»Danke«, sagte Yvonne.
»Keine Ursache. Was ist denn überhaupt passiert? Bist du ausgerutscht?«, fragte Bianca.
»Sie sagt, sie hätte eine Stufe verpasst«, antwortete Axel.
»Hey, noch kann ich für mich alleine sprechen«, sagte Yvonne und wandte sich an Bianca. »Ich habe eine Stufe verpasst.«
Niemand lachte über diesen Witz. Sie alle wussten, was mit Yvonne los war. Und sie wussten auch, dass es ihr schlechter ging.
»Es war ein Fehler, dass du Florian rausgeschmissen hast«, sagte Axel.
»Ich habe ihn nicht rausgeschmissen. Er ist freiwillig gegangen.«
»Ja, nachdem du ihm keine andere Wahl gelassen hast«, sagte er. »Wenn du mich so behandelt hättest, hätte ich auch meine Sachen gepackt.«
»Manchmal muss man ein wenig nachhelfen, damit der Jungvogel sein Nest verlässt.«
»Erzähl doch keinen Quatsch«, fuhr Axel sie an. »Du und ich, wir beide wissen doch ganz genau, dass du nicht alleine leben solltest. Florian weiß es auch.«
»Wenn ich jemanden brauche, der sich um mich kümmern soll, dann suche ich mir schon jemanden«, sagte Yvonne.
Es klingelte. Yvonne konnte von ihrer halben Treppe aus durch die vergitterten Milchglasscheiben zwei orangerote Schemen erkennen. Bianca hastete den Flur entlang und öffnete die Haustür.
»Soll ich Florian anrufen?«, fragte Axel.
Yvonne zögerte, dann nickte sie.
Axel atmete erleichtert auf und drückte ihre Hand. »Okay«, sagte er nur.
Das Hauptgebäude des Universitätsklinikums Frankfurt, in dem sich auch die Notfallambulanz befand, war ein grauer, lang gezogener Hochhauskomplex aus den Siebzigerjahren, der wie ein düsterer Plattenbauriegel die Sachsenhäuser Seite des Mains am westlichen Stadtende beherrschte. Es war ein Ort, der, von außen gesehen, mehr Ähnlichkeit mit einem Verwaltungsgebäude als mit einem Krankenhaus hatte. Yvonne war mit dem westlichen Teil bestens vertraut, da dort das Gebäude 93 stand, wo sie sich regelmäßig zur Nachuntersuchung einfinden musste und dem sie wahrscheinlich auch heute noch einen Besuch abstatten würde. Die chirurgische Ambulanz im Gebäude 23, ebenjenem Waschbetonblock, war jedoch ein Ort, den sie seltener aufsuchte. Sie hatte mittlerweile so viel Erfahrung mit Krankenhäusern, dass der Geruch, der schon auf dem Außengelände anders war als in der Stadt, etwas in ihr auslöste. Keine Aura, kein Blitzschlag wie der, der sie im Treppenhaus vor ihrer Wohnung von den Füßen geholt hatte. Und trotzdem veränderte dieser Geruch ihre Wahrnehmung, so als ob sie die Grenze von einem Leben ins andere überschritt.
Hilflos lag Yvonne auf dem Rücken und starrte die stockfleckige Decke an, die über ihr hinwegzog, während um sie herum die geschäftige Betriebsamkeit eines Bahnhofs herrschte. Sie drehte den Kopf auf die Seite und versuchte sich zu entspannen. Jemand drückte einen Schalter. Mit einem leiernden Summen schwang eine Tür auf. Dann wurde sie in ein leeres Behandlungszimmer geschoben, und man ließ sie ohne ein weiteres Wort allein, als wäre sie eine Lieferung, die ihren Bestimmungsort erreicht hatte. Der Raum war relativ groß, grün gefliest und vollgestellt mit Vitrinenschränken, hinter deren gläsernen Türen Verbandsmaterial, Medikamente und sterile Instrumente zu sehen waren. Alles war in ein kaltes Licht getaucht. Eine der Leuchtstoffröhren flackerte unmerklich. Yvonne schloss die Augen, denn sie wusste, dass so etwas einen neuen Anfall bei ihr auslösen konnte. Sie biss die Zähne zusammen und versuchte an etwas anderes zu denken: Meeresrauschen, einen Sonnenuntergang, irgendetwas Kitschiges, um die nach Desinfektionsmittel riechende Realität auszusperren. Ihr Körperempfinden war komplett zurückgekehrt. Alles tat ihr weh, und sie hoffte, dass sie sich bei dem Sturz nichts Ernsthafteres als die Platzwunde auf der Stirn zugezogen hatte. Eine kleine Nebentür, die vermutlich zwei Behandlungsräume miteinander verband, wurde aufgerissen, und ein junger Arzt vielleicht Anfang dreißig flog herein, den weißen Kittel, unter dem er ein Eintracht-Frankfurt-T-Shirt trug, geöffnet. Um den Hals hatte er lässig ein Stethoskop gehängt.
»Hallo«, sagte er, während er mit einem Fuß nach einem Rollhocker angelte und sich vor ein Computerterminal
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