Lebenslang
verfangen. Ich schlage die Hand vor den Mund, um das Schluchzen, das mich wie ein Würgeanfall überfällt, zu unterdrücken. Schließlich strecke ich meine Finger aus, um sie zu berühren.
»Bitte tun Sie das nicht«, sagt der Arzt, der keiner ist.
»Ist das Ihre Tochter Julia?«, fragt mich Schumacher.
Ich nicke. »Was ist mit ihr geschehen?«, will ich wissen. »Warum hat ihr Gesicht solch eine Farbe?«
»Es sind Blutergüsse.«
»Ich möchte sie anfassen«, sage ich.
Der Mann im weißen Kittel schaut Schumacher an, der daraufhin sagt: »Ich glaube, wir sollten gehen.«
Ich schüttele den Kopf, energisch, und stoße Schumacher weg. »Ich will mich von meiner Tochter verabschieden! Und ich will wissen, was mit ihr geschehen ist!«
»Das können wir nicht mit Bestimmtheit sagen!«, sagt der Mann im weißen Kittel.
Ich schlucke schwer. »Wurde sie vergewaltigt?«
»Wir haben sie noch nicht untersucht.«
Bevor mich jemand daran hindern kann, greife ich das grüne Tuch, mit dem man meine Tochter zugedeckt hat, das Leichentuch, und ziehe es mit einem Ruck weg. Das zweite, kleinere Tuch, das den Kopf verhüllt, fällt zu Boden.
Ich weiß nicht, wie lange ich schreie. Und ich weiß auch nicht, wer mich alles aus diesem Saal zerrt. Doch was ich nie, nie vergessen werde, ist das, was man meiner Tochter angetan hat.
E s war heiß und drückend schwül. Sand und Steine knirschten unter ihren Füßen, als sie atemlos einen von Bäumen umsäumten Weg entlanghetzte. Yvonne sah an sich hinab. Sie trug eine kurze abgeschnittene Jeans, ein rotes T-Shirt und rote Turnschuhe. Ihr Körper war nicht der einer Frau, sondern der eines heranwachsenden Mädchens.
Angst schnürte ihre Kehle zu, denn sie wusste, dass sie sterben würde, wenn es ihr nicht gelänge, dem Verfolger zu entkommen. Sie wagte es nicht, sich umzuschauen, sondern konzentrierte sich darauf, so schnell wie möglich zu laufen, ohne dabei über die eigenen Füße zu stolpern.
Das Atmen war ein heiseres, jämmerliches Wimmern. Die heiße, trockene Luft brannte in ihren Lungen. Sie gab alles, was sie konnte, und trotzdem wusste sie, dass es nicht genug sein würde. Dass der Verfolger sie schnappen würde, Dinge mit ihr machen würde, die sie sich noch nicht einmal vorstellen konnte.
Ihr Wimmern ging in ein Schluchzen über. Dann stürzte sie, über einen Stein oder ihre Füße, es war egal, denn es war vorbei. Der Mann war über ihr und schlug ihr ins Gesicht. Einmal. Zweimal. Dreimal. Mit der flachen Hand. Mit der Faust. Sie spürte, wie der Stoff ihres T-Shirts riss. Verzweifelt versuchte sie, sich frei zu strampeln, doch die Schläge hörten nicht auf. Mit einem lauten Schrei schreckte Yvonne hoch.
»Mutter?«, kam es von der anderen Seite der Wohnungstür. »Mutter, ist alles in Ordnung mit dir?«
Yvonne schaute an sich hinab. Der Schweiß ließ ihren nackten, grätendürren Oberkörper glänzen. Irgendwann in der Nacht musste sie sich ihrer Kleidung entledigt haben, weil es so heiß war. Das Kopfkissen war nass, die Bettdecke lag auf dem Boden.
»Mutter, mach auf! Ich weiß, dass du da bist!«
Yvonne keuchte, als sie versuchte, die Bilder des Traumes abzuschütteln, die so real und so schrecklich gewesen waren, dass sie noch immer am ganzen Leibe zitterte. Sie strich sich mit der Hand über das Gesicht und erwartete schon, ein geschwollenes Auge zu spüren, Blut zu ertasten. Aber da war nichts.
»Ich trete gleich die Tür ein!«
»Einen Moment«, rief sie mit möglichst fester Stimme. »Ich muss mir erst etwas anziehen.« Sie stand auf und nahm sich den Bademantel, der an einem Haken an der Tür hing, nahm den Schlüsselbund aus der Sterntalerschale und entriegelte die vier Schlösser, die nur von innen geöffnet werden konnten. Florian riss die Tür auf und erstarrte.
»Oh mein Gott.« Er schaltete das Licht im Flur an. Alle Farbe wich aus seinem Gesicht, als er seine Mutter sah. »Was hast du getan?«
Yvonne blinzelte Florian irritiert an, dann strich sie sich mit der Hand über den kahlen Kopf. Sie errötete.
»Warum in drei Teufels Namen hast du dir die Haare abgeschnitten?«, fragte er.
Sie zuckte mit den Schultern. Wenn sie ehrlich war, wusste sie es auch nicht mehr.
»Was ist bei der Untersuchung herausgekommen? Warum werden deine Anfälle schlimmer?«
Yvonne presste die Lippen aufeinander. »Komm, ich mach uns erst mal einen Kaffee. Wie spät ist es eigentlich?«
Florian drückte die Wohnungstür hinter sich zu. »Kurz nach halb
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