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Lebenslang

Lebenslang

Titel: Lebenslang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schwindt
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und musterte sie unverhohlen. Der Mann war vielleicht zehn Jahre jünger als sie. Sein dichtes, kurz geschnittenes braunes Haar ergraute bereits an den Schläfen. Ein leichter Bauch wölbte sich unter einem blauen T-Shirt, das eine Spur zu eng war. Zu viel schlechtes Essen, zu wenig Bewegung.
    »Ja, das kann sein«, erwiderte Yvonne und wich seinem Blick aus. Sie gab vor, etwas in ihrer Handtasche zu suchen. »Könnten wir jetzt bitte weiterfahren?«
    »Natürlich«, sagte der Mann. Mit einem kaum wahrnehmbaren Motorengeräusch setzte sich der Mercedes wieder in Bewegung. »Stört es Sie, wenn ich das Radio einschalte?«
    »Nein«, sagte sie und schaute zum Fenster hinaus, als sie den Livekommentar eines Fußballmatches hörte. Es war irgendein unbedeutendes Vorrundenspiel, Serbien gegen Ghana. Sie überquerten den Main und fuhren die Konrad-Adenauer-Straße hinauf, bis sie die Friedberger Landstraße erreichten. Als sie an einer Kreuzung halten mussten, suchte der Fahrer im Rückspiegel ihren Blick.
    »Was?«, fragte Yvonne gereizt.
    »Nichts«, sagte der Mann und richtete den Blick wieder auf die Straße. Die Ampel sprang auf Grün, und er gab Gas.
    Yvonne verfluchte sich innerlich, sie hätte doch eine Kappe aufsetzen sollen. Mit dem kahl geschorenen Kopf lenkte sie alle Blicke auf sich. Sie durchwühlte ihre Handtasche in der Hoffnung, dass in einer der vielen Seitenfächer noch ein Halstuch war. Tatsächlich fand sie einen Seidenschal, den sie im Winter immer als eiserne Reserve mitgenommen hatte. Sie wickelte ihn umständlich um den nackten Schädel und band ihn im Nacken zusammen, doch er war zu schmal, als dass er ihren Kopf komplett hätte bedecken können. Wütend stopfte sie das Tuch wieder zurück in die Tasche und starrte zum Fenster hinaus. Sie schloss die Augen. Durch die geschlossenen Lider nahm sie das Wechselspiel von Licht und Schatten wahr. Etwas begann in ihrem Kopf zu summen, wie die Ahnung einer Aura. Sie wusste, dass rhythmisch pulsierendes Licht einen epileptischen Anfall auslösen konnte, also rutschte sie auf die andere Seite des Rücksitzes, der im Schatten lag.
    Eigentlich war es kompletter Unsinn, was sie da tat. Die Visionen des Kindes, die sie gehabt hatte, mochten sich zwar beängstigend real angefühlt haben. So beängstigend wie der Blick des Mannes, der ihr in der chirurgischen Ambulanz des Krankenhauses gegenübergesessen hatte. Sie wusste aber auch, dass ihre Erkrankung manchmal zu einer übersteigerten Wahrnehmung führte. Dann nahm sie Farben intensiver wahr, Gerüche, Geräusche. Alles bekam in diesen Momenten eine neue, tiefere Bedeutung, die sich ihr aber nie erschloss.
    Immer mehr kam es Yvonne absolut töricht vor, was sie tat. Am liebsten hätte sie den Fahrer angewiesen, umzukehren und sie zurück in die Souchaystraße zu bringen. Aber jetzt war es zu spät, sie hätte sich lächerlich gemacht.
    Sie hatten Bad Vilbel erreichte, und das Taxi bog rechts ab. Vor einem Haus in der Bergstraße hielt es. Der Fahrer drehte sich zu ihr um.
    »Wir sind da«, sagte er. »Macht 27,60 Euro.«
    Yvonne schaute zum Fenster hinaus und betrachtete das Mehrfamilienhaus. Es war alt, bestimmt vierzig Jahre. Aber alles war gepflegt und passte in dieses Vorortidyll.
    »Würde es Ihnen etwas ausmachen, fünf Minuten auf mich zu warten?«
    Der Fahrer zuckte mit den Achseln. »Wenn Sie sich nicht aus dem Staub machen.«
    Yvonne hielt ihre Handtasche so hoch, dass er sie sehen konnte, und warf sie ihm auf den Beifahrersitz. Dann stieg sie aus.
    Vier Parteien wohnten in dem grau gestrichenen Haus mit den pfirsichfarbenen Balkonen. Der Vorgarten war gepflegt, aber einfallslos bepflanzt. Yvonne öffnete das kleine schmiedeeiserne Tor und stieg die Treppe zur Haustür hinauf, wo sie einen Blick auf die Klingelschilder warf. Ursprung, Brandt, Eisenstein und Arnold. Kein Winkler. Kurz entschlossen drückte sie den untersten Knopf. Fünf Sekunden später summte der Öffner, und sie stieß die Tür auf. Kühle Treppenhausluft schlug ihr entgegen. Eine ältere Dame hatte ihre Wohnungstür geöffnet und schaute Yvonne an, als wäre sie ein Kalb mit zwei Köpfen.
    »Entschuldigen Sie bitte die Störung, aber ich habe eine Frage, die Sie mir vielleicht beantworten können.«
    Die alte Dame nickte stumm und konnte den Blick nicht von Yvonnes Glatze wenden.
    »Ich suche einen Georg Winkler.«
    Die alte Dame blinzelte, als wäre sie gerade aus einer Trance erwacht. »Wie, sagten Sie, war der Name?«
    »Winkler.

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