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Lebenslang

Lebenslang

Titel: Lebenslang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schwindt
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Wohnung nicht mehr ausgehalten hatte. Sie hatte ihre Lieblingsorte, wo sie ungestört Menschen beobachten konnte. Das war ihre bevorzugte Art des Zeitvertreibs. Früher hatte sie viel gelesen, die Regale in ihrem Wohnzimmer standen noch immer voller Bücher, deren Inhalt sie längst vergessen hatte, aber für die ihre Konzentration nicht mehr ausreichte.
    Einzig in den Gesichtern von Menschen konnte sie noch lesen, und manchmal erzählten sie ihr Geschichten. Wenn diese Geschichten interessant waren, folgte sie der entsprechenden Person. Wahrscheinlich ein Relikt aus der Zeit, als sie noch Polizeibeamtin war. Aber dieses Spiel war immer noch interessanter, als am Mainufer oder in einem Museum die Zeit totzuschlagen.
    Yvonne stellte sich dabei geschickt an. Jedenfalls war sie bei dem, was sie Observation nannte, noch nie erwischt worden. Einmal hatte sie einen Mann verfolgt, einen ganzen Vormittag lang, und auf diese Art und Weise sehr viel über ihn erfahren. Sie hatte sich vorgestellt, wie sich sein Leben anfühlte, wenn sie in seiner Haut steckte. Empathie – sie glaubte, so hieß das Wort – war ihre Stärke. Yvonne konnte sich immer noch in fast jede Person hineinversetzen, obwohl ihre eigenen Reaktionen auf die so gewonnenen Erkenntnisse nicht mehr adäquat waren. Sie wusste, wie sich Florian fühlte, sie spürte seine Hilflosigkeit ihr gegenüber, doch die Kugel in ihrem Kopf ließ ihr keine andere Wahl, als ihn abzuweisen und zu verletzen.
    Aber heute würde sie das wahllose Verfolgungsspiel nicht spielen. Heute hatte sie ein Ziel.
    Nur selten verließ sie das Viertel, in dem sie lebte, oder gar die Stadt. Es fiel ihr immer noch schwer, sich außerhalb der gewohnten Umgebung zu bewegen. Ihre Orientierungsfähigkeit war eingeschränkt, und manchmal verlief sie sich, obwohl sie nur wenige Straßen von ihrer Wohnung entfernt war. Deswegen hatte sie stets einen dieser seltsamen gefalteten Stadtpläne, den sie manchmal an jeder Straßenecke konsultieren musste. Sie hasste es, nach dem richtigen Weg zu fragen. Meist bekam sie sowieso keine brauchbare Antwort. Und wenn doch, hatte sie sie nach wenigen Metern wieder vergessen.
    Ihr Kurzzeitgedächtnis war wie das Ruinengelände einer zerbombten Stadt. Wenn es etwas Wichtiges gab, das sie nicht vergessen durfte, trug sie es in ein schwarzes Notizbuch ein. Im Laufe der Jahre hatten sich auf diese Art eine Vielzahl dieser kleinen, in Leder eingebundenen Kladden angesammelt und auf diese Weise ein Kompendium von Tagebüchern gebildet, die weniger wichtige Ereignisse festhielt, sondern eher eine Sammlung von Wegmarken war, die in der Rückschau ein verwirrendes Muster bildeten.
    Pläne bestimmten ihr Leben außerhalb der schützenden vier Wände ihrer Wohnung. Stadtpläne. U-Bahn-Pläne. Fahrpläne. Mit ihnen versuchte sie Orientierung in einer Welt zu finden, die nicht mehr die ihre war. Und je weiter sie sich von den Orten entfernte, zu denen sie noch eine Verbindung hatte, desto unruhiger und nervöser wurde sie.
    Mit der U-Bahn fuhr sie nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Mittlerweile hatte sie so viel für Taxifahrten ausgegeben, dass sie sich von dem Geld auch ohne Weiteres hätte ein Auto leisten können. Doch sie hatte den Führerschein abgegeben. Die Gefahr, im Auto einen Anfall zu erleiden, war einfach zu groß. Außerdem hätte sie den dichten Stadtverkehr in Frankfurt niemals mehr bewältigen können.
    Yvonne trat vor die Haustür und steckte den Schlüssel in ihre Handtasche. Sie blinzelte in die Sonne und zuckte zusammen, als ein mit Fahnen geschmücktes Auto hupend an ihr vorbeifuhr. Junge Männer im weißen Trikot der deutschen Fußballnationalmannschaft riefen ihr etwas zu, doch sie verstand nicht, was sie brüllten. Dann sah sie das Taxi, das an der Straßenecke auf sie wartete.
    Der Fahrer sah sie misstrauisch an, als Yvonne auf dem Rücksitz Platz nahm. Sie ignorierte den Blick und teilte ihm die Adresse mit, zu der er fahren sollte. Von dem, was sie auf dem Krankenblatt hatte erkennen können, wohnte dieser Georg Winkler in Bad Vilbel, einem nördlichen Vorort Frankfurts.
    Der Mann drehte den Zündschlüssel um und fuhr los. Doch nach fünfzig Metern steuerte er den Wagen an den Straßenrand.
    »Sagen Sie mal, kennen wir uns?«, fragte er.
    »Vielleicht. Es ist nicht das erste Mal in meinem Leben, dass ich ein Taxi benutze«, sagte Yvonne.
    »Gestern an der Uniklinik habe ich Sie mitgenommen. Kann das sein?« Er hatte sich jetzt zu ihr umgedreht

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