Lebenslang
zehn. Du hast das Klingeln des Telefons nicht gehört.«
Sie hatte beinahe achtzehn Stunden geschlafen! Yvonne verriegelte die Schlösser und legte den Bund wieder Sterntaler in den Schoß. »Ich war müde. Hast du meine SMS nicht gelesen?«
»Doch. Natürlich.«
»Na also, wo ist das Problem? Willst du überhaupt einen Kaffee?«
Florian schnaubte ungläubig, als er seiner Mutter in die Küche folgte. Yvonne nahm zwei Tassen aus dem Schrank und stellte sie unter den Kaffeeautomaten. Florian setzte sich an den Küchentisch und rieb sich müde die Augen. »Hat man dir im Krankenhaus die Haare abgeschnitten?«
»Nein, das war ich selbst.« Sie drückte einen Knopf, und die Saeco erwachte zum Leben.
»Was ist bei der Untersuchung herausgekommen? Sag es mir verdammt noch mal, ich bin kein kleines Kind mehr.«
»Espresso oder Cappuccino?«
Florian schlug mit der flachen Hand so laut auf den Tisch, dass Yvonne zusammenzuckte. Einen langen Moment schaute sie ihren Sohn an. »Sie haben einen Hirnabszess entdeckt. Man hat mir zwar ein Antibiotikum verschrieben, aber keiner weiß, ob es helfen wird.«
»Kann man ihn operieren?«, fragte Florian.
»Genauso wenig, wie man die Kugel aus meinem Kopf entfernen kann, ohne dass die Gefahr besteht, dabei zusätzlichen Schaden anzurichten«, sagte Yvonne.
Florian rang nach Worten. »Und du sagst das einfach so, als müsstest du einen Wagen verschrotten, weil er sich nicht mehr reparieren lässt?«
»Wie soll ich es sonst sagen? Soll ich heulen und mich auf den Boden werfen? Mir die Haare raufen?« Sie strich sich über die Glatze.
»Du könntest kämpfen, wie wäre es damit?«, sagte Florian. »Früher hast du nie so schnell aufgegeben.«
»Früher war eine andere Zeit«, antwortete Yvonne kühl. »Eine andere Zeit mit anderen Menschen.«
»Oh bitte, schieb nicht alles auf deine Scheißkugel im Kopf!«, fuhr Florian sie an. »Sie ist mittlerweile eine wunderbare Entschuldigung für alles geworden. Du hast es dir bequem gemacht, dich mit ihr eingerichtet.«
»Florian …«
»Nein, jetzt hörst du mir einmal zu.« Seine Stimme wurde laut. »Ich weiß nicht, warum du mich so aus deinem Leben ausschließt, als wäre ich eine Belastung für dich. Vielleicht denkst du, du musst mich vor irgendetwas beschützen.«
»Florian!«
»Ich könnte besser damit umgehen, wenn du ehrlich zu mir wärst und aufhören würdest, diese beschissenen Spiele zu spielen. Weißt du, ich reiß mir den Arsch für dich auf, mache mir Sorgen um dich, und das Einzige, was ich von dir höre, sind diese Sprüche. Ich kann sie nicht mehr hören, verstehst du mich?«
Er stand auf.
»Schau dich doch einmal an!« Er packte sie bei den Schultern und drehte sie so um, dass sie in den Spiegel schauen konnte, der im Flur neben der Garderobe stand. »Du hast dich aufgegeben!«
Yvonne riss sich los. »Ich habe keine Kraft mehr«, schrie sie ihn an und trommelte mit ihren knochigen Fäusten gegen seine Brust. Florian packte sie bei den Handgelenken. Erst als der Widerstand nachließ, lockerte er den Griff.
»Geh«, sagte sie mit leiser, zitternder Stimme.
Florian zögerte.
»Geh. Bitte.« Sie hielt sich den Kopf und sah zu Boden. Er wandte sich von ihr ab und ging. Erst als er die Tür leise hinter sich zugezogen hatte, brach sie weinend zusammen.
Sie hatte alles verloren: ihren Mann, ihre Erinnerungen, ihre Gesundheit, ihr Leben. Und jetzt schien es, als würde sie auch noch ihren Sohn verlieren. Etwas in ihr schrie sie an, hinter ihm herzulaufen, ihn aufzuhalten und sich bei ihm zu entschuldigen. Aber sie konnte es nicht. Yvonne war innerlich zu Stein erstarrt. Sie setzte sich auf den Küchenstuhl und wartete, bis das Schluchzen ein Ende gefunden hatte. Erst als sie sich wieder gefasst hatte, atmete sie tief durch und wischte sich mit einem Stück Küchenkrepp die Nase ab.
Sie musste raus, die Wohnung verlassen, die auf einmal eng und bedrückend war. Yvonne überlegte, ob sie eine Mütze oder eine Kappe aufsetzen sollte, um ihren kahlen Kopf zu bedecken. Sie hasste es, im Mittelpunkt zu stehen, alle Blicke auf sich gerichtet. Es war schon schlimm genug, wenn sie in der Öffentlichkeit eine ihrer Absencen hatte. Aber mit den abgeschnittenen Haaren war es etwas anderes. Sie gehörte nicht mehr zu den Lebenden, sondern hatte sich auf eine unfreiwillige Reise begeben, die im schlimmsten Fall mit ihrem Tod enden würde.
Yvonne war schon früher ziellos durch die Stadt gestreift, wenn sie es in ihrer
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