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Lebenslang

Lebenslang

Titel: Lebenslang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schwindt
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Georg Winkler.«
    »Der wohnt hier nicht.«
    »Sind Sie sich da sicher?«
    »Natürlich bin ich mir das«, sagte die alte Dame, und es klang beinahe entrüstet. »Ich lebe jetzt schon mein halbes Leben hier in diesem Haus. Glauben Sie mir, ich weiß, wer hier wohnt.«
    Ja, das glaube ich auch, dachte Yvonne. Und wer die Kehrwoche nicht einhält, den meisten Dreck macht und das Kellerfenster im Winter nicht schließt. »Vielleicht hat man mir nur die falsche Hausnummer gegeben.«
    »Nun, vielleicht ist ja die ganze Adresse falsch«, sagte die Frau. »Wenn hier in der Straße ein Georg Winkler wohnte, wäre er mir bekannt. Wie soll er denn aussehen?«
    »Graue Haare, grauer Bart, blaue Augen. Um die sechzig Jahre alt. Ein Meter fünfundsiebzig groß, stämmige, leicht untersetzte Figur. Sieht ziemlich mitgenommen aus, so als wäre er in eine Schlägerei geraten. Die linke Hand ist bandagiert. Als ich ihn das letzte Mal sah, trug er eine beige Hose und ein kariertes Hemd.«
    Die Frau schüttelte erneut den Kopf, diesmal energischer. »Kenne ich nicht. Habe ich nie gesehen.« Sie starrte wieder Yvonnes Glatze an. »Sind Sie von der Polizei oder was?«
    »Nein, bin ich nicht. Entschuldigen Sie bitte die Störung«, sagte Yvonne. Sie drehte sich um und ging.
    »Und was wollen Sie dann?«, rief ihr die alte Frau hinterher.
    Yvonne riss die Haustür auf und trat hinaus in das gleißende Sonnenlicht. Trotzdem fühlte sie eine kribbelnde Kälte, die ihre Füße und Hände ertauben ließ. Sie atmete flach und schnell. Hinter ihr fiel mit einem Klacken die Tür ins Schloss.
    Alles schien auf einmal ganz weit weg zu sein, so als wenn man durch das falsche Ende eines Fernglases schaut. Sie blickte nach unten. Vorsichtig setzte sie den rechten Fuß auf die erste Stufe, die hinabführte. Die linke Hand stieß gegen etwas Hartes. Das Treppengeländer. Sie wusste, gleich wird es geschehen, doch irgendwie war es ihr gleichgültig. Es gab kein Oben und Unten mehr, sie spürte nicht, wie die Welt sich auf den Kopf stellte, der Absatz ihres Fußes die marmorne Kante verfehlte. Alles, was sie in diesem Moment ausmachte, schnurrte zu einem nadelfeinen Punkt zusammen, der nur aus Bewusstsein, aber nicht mehr aus Persönlichkeit bestand.
    Wieder roch sie die Waldluft, hörte sie, wie die Dünung des Sees gegen einen Felsen plätscherte. Das Mädchen lag auf dem Bauch, den Kopf zur Seite gewandt, das eine verbliebene Auge weit aufgerissen. Wie in einer endlosen, unaufhaltsamen Kamerafahrt bewegte sich Yvonnes Blick auf die Pupille zu, die so trübe war, dass sich nichts mehr in ihr spiegelte. Dann nahm die Iris eine andere Farbe an, wechselte von braun zu blau, einem Blau von der Farbe des Himmels, der sich über diesen ganz und gar nicht schönen Tod spannte. Und dieser Tod hatte Augen, kalte Augen, erbarmungslose Augen. Sie gehörten zu einem anderen Gesicht. Zum Gesicht eines Mannes, des Mannes, den Yvonne nur einmal gesehen hatte. Sein Anblick hatte ausgereicht, um etwas in ihr auszulösen. Diese Vision von sommerlichem Sterben.
    Tote Blätter auf unschuldiger Haut.
    Dieser Mann und dieses Mädchen standen sich nahe, sehr nahe. Zu nahe, als dass alles ein Zufall sein könnte. Wenn sie erwachte, würde Yvonne nicht mehr wissen, wie dieses Gesicht aussah, das überhaupt keine Merkmale aufwies, an die man sich erinnern konnte.
    Mit Ausnahme natürlich der Augen.
    Doch jetzt, wo sich das Bewusstsein von ihrem Körper gelöst hatte, sah sie den Mann so deutlich, so überdeutlich, dass jedes Haar, jede Falte spitz und scharf wie ein kaltes Messer war. Sie versuchte, von diesen Zügen ein Gedächtnisbild zu machen, ein Erinnerungsfoto in des Wortes ursprünglicher Bedeutung, sodass sie sich, wenn der Anfall nachließ, nur noch hinsetzen und es zu Papier bringen musste. Lange starrten sie sich an. Zeit existierte nicht.
    Alles dauerte ewig und eine Sekunde.
    Yvonne schritt um ihn herum, obwohl sie Angst hatte, dass der Mann sie angreifen und verletzen könnte. Aber das war natürlich Unsinn, denn dies war ja nicht die reale Welt, die Ecken und Kanten und Zähne hatte, an denen man sich verletzen konnte, sondern dies war ein imaginärer Ort in ihrem Kopf. Einer der wenigen, der nicht von der Kugel in Mitleidenschaft gezogen worden war. Und trotzdem flackerte die Erscheinung vor ihrem inneren Auge auf, wurde unscharf und löste sich dann in ein allumfassendes Weiß auf. Das Geräusch, das sie dabei zu hören glaubte, erinnerte an reißenden

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