Lebenslang
in der letzten Zeit ein wenig seltsam war, dann liegt es daran.«
Schweigen am Tisch. Auch die Musik verstummte in diesem Moment.
»Es tut mir leid, dass ich euch jetzt den Abend verdorben habe«, sagte Yvonne und versuchte zu lächeln.
Axel blies die Backen auf und schob seinen Teller von sich fort. Bianca wusste nicht, wohin sie ihren Blick wenden sollte. Florian stand auf und nahm seine Mutter ungelenk in den Arm. Er weinte. Dann setzte er sich wieder, das Gesicht eine reglose Maske, nur die Augen gerötet.
»Dieser Abszess, lässt der sich nicht operieren?«, fragte Bianca.
»Natürlich lässt er sich operieren«, sagte Yvonne. »Die Frage ist nur, ob und wie ich diese Operation überleben werde.« Sie faltete die Hände, beugte sich vor und stützte sich auf den Tisch. »Im Prinzip ist es eine einfache Rechenaufgabe, mit vier möglichen Ergebnissen. Die Operation ist ein Erfolg, und ich verlasse halbwegs gesund das Krankenhaus. Die Operation scheitert, und ich sterbe. Und dann gibt es noch eine dritte Möglichkeit, und die ist die wahrscheinlichste: Die Kugel wird entfernt, aber das Gehirn trägt einen solchen Schaden davon, dass ich für den Rest meines Lebens ein Pflegefall bin. Diese Vorstellung ist mir unerträglich.«
»Was ist mit der vierten Variante?«, fragte Axel.
»Das ist der Weg, den meine Mutter gehen will«, sagte Florian. »Sie wird nichts tun. Sie lässt sich nicht operieren. Und wenn die Ausfallerscheinungen irgendwann so groß werden, dass sie nicht mehr akzeptabel sind, wird sie ihr Leben selbst beenden.«
»Entschuldige, aber das ist verrückt«, sagte Bianca.
»Nein, das ist es nicht«, erwiderte Yvonne.
»Was denn? So nach dem Motto: Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende?«, fragte Axel wütend.
»Nicht gerade poetisch ausgedrückt, aber ich denke, das trifft den Nagel auf den Kopf«, sagte Yvonne.
»Hast du dir schon überlegt, wie du es dann anstellen wirst?«, fragte Florian sie ruhig und sehr leise.
Bianca vergrub ihr Gesicht mit einem Stöhnen in den Händen.
»Ich denke nicht, dass ich hier und jetzt mit dir darüber diskutieren will, wie ich aus dem Leben scheiden möchte«, sagte Yvonne scharf und bereute es, dass sie das Thema angeschnitten hatte. Sie bereute es auch, diese Einladung überhaupt ausgesprochen zu haben. Es war einfacher, wenn man die Dinge alleine mit sich ausmachen konnte. Niemand, der fragte. Niemand, der sich vor den Kopf gestoßen fühlte. Niemand, der meinte, für sie Verantwortung übernehmen zu müssen.
»Scheiße«, sagte sie nur und warf ihre Serviette auf den Tisch.
Thomas hatte während der letzten Minuten kein einziges Wort gesagt, und auch jetzt schwieg er.
»Was ist mit Ihnen? Haben Sie dazu nicht auch eine Meinung?«, fragte Florian erbost.
Thomas schüttelte den Kopf. »Ich habe in den letzten Tagen eine Ahnung vom Leben Ihrer Mutter bekommen. Ich kann sie verstehen. Und ganz ehrlich, wenn mich solch ein Ende erwartete, würde ich die Sache auch abkürzen wollen.«
Yvonne kniff die Augen zusammen. »Aber?«
»Aber solange es noch eine Chance auf Heilung gibt, wären Sie dumm, sie nicht zu ergreifen.«
»Können Sie mir ein Happy End garantieren?«
»Nein, das kann ich natürlich nicht. Niemand kann das.«
Yvonne lehnte sich wieder zurück. »Dann ist die Sache für mich klar. Ich werde es nicht tun.«
»Aber du könntest eine Patientenverfügung schreiben«, sagte Bianca.
»An die sich ohnehin niemand halten wird.«
Florian starrte auf seine Hände, die er vor sich auf den Tisch gelegt hatte, und schüttelte ungläubig den Kopf.
»Vielleicht solltest du das ohne uns mit deinem Sohn bereden«, sagte Axel. Er stand auf und schob den Stuhl zurück, so leise es ging. Bianca wollte etwas sagen, doch das Gesicht ihres Mannes hatte einen warnenden Ausdruck.
»Es tut mir leid«, flüsterte Yvonne. »Ich bringe euch noch zur Tür.« Sie wollte aufstehen, doch Bianca war schneller.
»Nein, bleib sitzen«, sagte sie hastig. Ohne sich richtig zu verabschieden, gingen sie. Als die Wohnungstür ins Schloss gefallen war, fegte Florian seinen Teller vom Tisch.
»Kannst du einmal in deinem Leben auch an andere denken und nicht nur an dich?« Sein Atem ging schwer. Er stand auf, warf dabei den Stuhl um. »Ich hätte nie gedacht, dass ich das einmal zu dir sagen würde. Aber ich hasse dich. Du zerstört nicht nur dein eigenes Leben, sondern auch das aller, denen du etwas bedeutest. Wenn du dich umbringen willst, tu es.
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