Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lebenslauf zweiter Absatz

Lebenslauf zweiter Absatz

Titel: Lebenslauf zweiter Absatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Kant
Vom Netzwerk:
meinen neun Nachbarn die zwanzig Mark.
    Ich fand es ungerecht, daß er das wie einen Vorwurf klingen ließ, aber meine Mutter hielt etwas anderes für wichtiger. Die zwanzig Mark, sagte sie, die schulden wir nicht antstatt, die schulden wir außerdem.
    Es war zu merken: Ich war nicht der einzige, der meine Mutter nicht verstand. Und mein Vater war der einzige, der sie zu fragen wagte: Magst du das wohl erklären?
    Das sei sehr einfach, sagte meine Mutter, wir hätten keine Quittung von Frau Persokeit, und so seien die zwanzig Mark in Frau Persokeits Tasche irgendwelche zwanzig Mark, und wir schuldeten ihr immer noch die Rate.
    Der Tag hat sich gelohnt, sagte mein Vater, heute morgen waren zwanzig Mark fällig, und daraus sind nun, wie, weiß ich auch nicht ganz, vierzig geworden.
    Mein Vater stieß die Fäuste in die Tiefen seiner Knickerbocker, und er pfiff scheußlich durch die Zähne, und einen Augenblick lähmte der Gedanke, er könnte heulen wollen, mein Herz, aber dann sagte er: Nur weiß ich, daß ich mich nicht bei neun Nachbarn verschuldet habe, um den Erben von Frau Persokeit zwanzig Mark zu schenken!
    Es schien diese Mitteilung zwar nicht jedermann gleich klar zu sein, denn ich sah einige gerunzelte Stirnen, aber die Stirnen glätteten sich, und Klarheit zog in die Augen, als mein Vater die Börse aus Frau Persokeits Rollstuhl nahm und ihren Inhalt an die Nachbarn verteilte.
    Er machte keinen Fehler dabei, jeder bekam, was er gegeben hatte, nur Herr Heiliger schien beanstanden zuwollen, daß sein Zweimarkstück ein anderes gewesen war, und Herr Binder versuchte mit einer halbherzigen Handgebärde, an der Ausschüttung beteiligt zu werden, aber es kam trotz der Anwesenheit einer toten Person fast freudige Stimmung auf, und in die hinein sagte meine Mutter: Wenn Wachtmeister Lange dies sähe, das wäre was!
    Sie mußte das niemandem erläutern, und auch ich verstand es sogleich: Eine Halsabschneiderin stirbt, und ihre Opfer teilen sich deren Habe. Wie sie ertappt werden, schreien die Fledderer, es sei ihr eigenes Geld, und sie verstricken sich in die phantastischsten Erklärungen. Sie hätten gesammelt, um einer Nachbarin aus Verdacht zu helfen oder vielmehr sie nicht in den Verdacht hinein zu lassen. Und nach einigem Überlegen hätten sie das Geld wieder an sich genommen und jedermann zurückerteilt. Es sei ihr eigenes Geld, sagten die Leute, welche vom Wachtmeister dabei betroffen wurden, wie sie das Portemonnaie der Verstorbenen reihum gehen ließen und sich daraus bedienten. Eindeutig Leichenfledderei, und vor solcher Ungeheuerlichkeit verbot sich auch die Frage nicht, woran oder durch wen Frau Persokeit gestorben war.
    Aber Wachtmeister Lange war so freundlich, erst in unser Haus zu treten, als Frau Persokeits Börse wieder leer bei Frau Persokeits Leiche lag, und er hatte die Freundlichkeit, die Sache für eine klare Sache zu halten.
    Altersschwäche und Geldgier, sagte er, da geht es einmal so. Er meinte, der Arzt müsse gleich kommen, und dann, sagte er und wies mit dem Kinn auf Frau Persokeit, die nun doch etwas mehr zusammengerutscht schien, hätten wir unsere Küche bald wieder für uns allein.
    Er unterhielt sich auf Nachbarsart mit uns, und die Kleine Rainstraße kannte er auch. Eine lärmige Gegend, sagte er, da haben Sie Glück gehabt, daß Sie das hier gefunden haben.
    Es war eine Gelegenheit, sagte mein Vater.
    Allein schon die Ruhe, sagte Wachtmeister Lange.
    Und meine Mutter meinte still, die sei nun wirklich kaum mit Geld zu bezahlen.

DER DRITTE NAGEL
    Die Wohnung war nicht schlecht, doch das Beste an ihr war der Bäcker. Ich hatte nicht seinetwegen den Umzug gemacht, aber seinetwegen würde ich nie wieder fortziehen. Er backte Brötchen, wie man sie lange schon nicht mehr für möglich hält. Es war, als hätte eine untergegangene Art einen der Ihren zurückgelassen, um der Welt zu zeigen, was ihr verlorenging.
    Manchmal trifft man noch auf eine Tomate, die wie eine Tomate schmeckt. Manchmal riecht eine Gurke herb und süß, wie die Gurken einstens rochen. Manchmal sehen Erdbeeren nicht nur aus, als wären sie Erdbeeren. Das ist dann Glück. Aber Glück ist ein Wort für die Ausnahmen.
    Ich klinge ungerecht, wo man weiß, daß ich einen Bäcker gefunden habe, dessen Brötchen unterm Biß noch knirschen. Die einem die Tasche wärmen, wenn man sie nach Hause trägt. Deren Duft uns im kahlen Wintermorgen die Nase hebt. Die nicht mit säuerlicher Luft gefüllt sind oder kaltem Kitt. Die

Weitere Kostenlose Bücher