Lebenslügen / Roman
seinen Adern floss das Blut von Fremden, er fragte sich, ob das Auswirkungen hatte. Hatte er seine Immunität gegen Masern verloren? Hatte er eine Prädisposition für etwas anderes erworben? (Etwas, was im Blut lag.) Hatte er die DNS von Fremden in sich? Es gab eine Menge unbeantworteter Fragen rund um seine Transfusionen. War das Mädchen eine Blutspenderin? Sie war bestimmt zu jung dafür.
»Exsanguiniert«, sagte sie unter gewissenhafter Betonung jeder Silbe.
»Genau.«
»Exsanguiniert«, wiederholte sie. »Sangria hat dieselbe Wurzel, lateinisch für Blut. Blutroter Wein. Weindunkle See.«
»Kenne ich dich?«, fragte Jackson. Vielleicht war sie auch eine Überlebende des Zugunglücks. Sie hatte eine hässliche Beule auf der Stirn.
»Nicht wirklich«, sagte sie. Keine sehr hilfreiche Antwort. »Essen Sie den Toast?«, fragte sie und blickte zu dem unappetitlichen Essen, das noch immer vor ihm stand.
»Iss, so viel du willst«, sagte Jackson und schob ihr das Tablett hin. »Kennen wir uns?«, hakte er nach.
»Auf gewisse Weise«, sagte sie mit dem Mund voller Toast.
Die Kopfschmerzen, die er beim Erwachen erfreulicherweise nicht gehabt hatte, setzten pochend wieder ein.
»Sie erinnern sich nicht an mich, oder?«, sagte sie.
»Tut mir leid, nein. Im Augenblick erinnere ich mich an vieles nicht. Erzählst du es mir, oder muss ich raten? Ich glaube nicht, dass ich die Kraft zum Raten habe.«
»Sie würden’s nicht erraten. Sie würden ewig brauchen.« Diese Vorstellung schien ihr zu gefallen. Sie machte eine dramatische kleine Pause beim Kauen und sagte: »Ich habe Ihnen das Leben gerettet.«
Ich habe Ihnen das Leben gerettet. Was sollte das heißen? Er verstand es nicht. »Wie?«
»Mund-zu-Mund-Beatmung. Arterienkompresse. Beim Zugunglück. Neben dem Gleis.«
»Du hast mir das Leben gerettet«, sagte er.
»Ja.«
Endlich begriff er. »Du bist die Person, die mir das Leben gerettet hat.«
»Ja.« Sie kicherte über seine Begriffsstutzigkeit. Er stellte fest, dass er grinste, er konnte überhaupt nicht mehr aufhören zu grinsen. Er war seltsam dankbar, dass ihm ein kicherndes Kind und nicht ein stämmiger Sanitäter das Leben gerettet hatte.
»Sie haben auch ihren Teil geleistet«, sagte sie. »Aber ich habe Sie am Anfang gerettet.«
Sie hatte ihm Leben eingehaucht, buchstäblich. Sein Atem war ihrer. Da machte Gott der HERR den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen. Mehr auswendig Gelerntes von einem trüben Ort in seiner spirituellen Vergangenheit.
Was um alles in der Welt sollte er zu ihr sagen? Es dauerte eine Weile, aber schließlich fiel es Jackson ein.
»Danke«, sagte er. Er grinste immer noch.
»Und die Cornflakes? Essen Sie die?«
»Technisch gesprochen, gehören Sie mir.«
»Wie bitte?« Sie hieß Reggie. Ein Männername.
»Sie sind mein Leibeigener.« Sie schien entzückt von dem Wort »Leibeigener«. »Sie können sich nur durch Reziprozität befreien.«
»Reziprozität?«
»Wenn Sie mir das Leben retten.« Sie lächelte ihn an, und ihr kleines Gesicht strahlte. »Und bis dahin bin ich für Sie verantwortlich.«
»Bis dahin?«
»Bis Sie mir das Leben retten. Amerikanische Indianer glauben das. Ich habe es in einem Buch gelesen.«
»Bücher sind nicht, was daraus gemacht wird«, sagte Jackson. »Wie alt bist du?«
»Älter, als ich aussehe. Glauben Sie mir.«
Was meinte sie damit, dass er ihr gehörte? Vielleicht hatte er seine Seele doch verpfändet, nicht an den Teufel, sondern an dieses komische kleine schottische Mädchen.
Dr. Foster steckte den Kopf zur Tür herein, sah das Mädchen an, runzelte die Stirn und sagte: »Sprich nicht zu lange mit ihm, es macht ihn müde. Noch fünf Minuten.« Sie hob in einer emphatischen Geste die Hand, als müssten sie ihre Finger zählen, um zu wissen, was fünf war.
»Hast du mich verstanden?«, wandte sie sich ausdrücklich an Reggie.
»Total«, sagte das Mädchen. Zu Jackson sagte sie: »Ich muss sowieso gehen. Draußen wartet ein Hund auf mich. Ich komme wieder.«
Jackson merkte, dass es ihm viel besser ging. Er war gerettet worden. Er war für die Zukunft gerettet worden. Seine Zukunft.
Wenn man eine Zukunft hatte, konnten sich zwei Krankenschwestern zusammenrotten und einem ohne Betäubung, ja ohne Vorwarnung, den Katheter entfernen und einen zwingen, aus dem Bett aufzustehen und in einem dünnen, hinten offenen Krankenhaushemd auf
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